Tanith Lee Cyrion Cyrion - Poet, Sänger, Söldner und Schwertkämpfer - der ungewöhnlichste Held der Fantasy. ISBN: 3404200608 Lübbe, Berg.-Gladb Originaltitel: Cyrion übersetzt von Eva Eppers Erscheinungsdatum: 1984 Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! Vorwort ­ Der Honiggarten Der dickliche junge Mann mit dem leuchtend rötlichgelben Haar verursachte einen gehörigen Aufruhr, als er das Gasthaus betrat. Und ganz ohne Absicht. Geblendet von dem hellen Sonnenlicht in den Straßen, übersah er eine der drei Eingangsstufen. Als er sich mit einem unfreiwilligen Satz vor den Folgen seines Irrtums zu bewahren suchte, prallte er gegen den ahnungslosen Mann, der gerade mit zwei Flaschen Wein in der Hand vorüberging. Mit einem zweistimmigen Überraschungs- und Schmerzensschrei stolperten beide in die Arme der bronzenen Quirri, die den Eingang bewachte. Und betätigten natürlich den Gong, der an ihrer Hand hing. Ein lautes Dröhnen hallte durch das Gebäude, gefolgt von dem Klirren erst einer Weinflasche, dann der zweiten Weinflasche. Ein seidener Vorhang, der beiseite geschoben wurde, gab den Blick auf den Hauptraum der Schänke und auf zwei kampfbereite Gäste männlichen Geschlechts frei. Der eine war ein untersetzter Bursche mit schwarzen Augenbrauen, der andere ein blonder Westländer, dessen Rüstung einen Soldaten vermuten ließ, wozu auch der Dolch paßte, den er rein gewohnheitsmäßig schon gezogen hatte. Aus einem Gang kam auch der Wirt he rbeigestürzt. Zu ihren Füßen zappelten die beiden Gestalten und schlugen matt um sich. »Bringen sie sich gegenseitig um?« »Der Halunke hat meinen armen Sklaven angegriffen!« Der dunkelhaarige Mann mit dem Abzeichen eines Baumeisters griff ein und zerrte den rothaarigen jungen Mann nach einer Seite, während der halbbetäubte Sklave nach der anderen Seite rollte. Der Wirt beugte sich über ihn und flötete: »Sag doch was, Esur. Stirbst du? Wo sich der Preis für Sklaven eben erst ve rdoppelt hat.« -2- Der Soldat hatte seinen Dolch wieder weggesteckt. Mit einem belustigten Ausdruck auf seinem hübschen, bärtigen Gesicht meinte er: »Ein Versehen, glaube ich.« Er drehte sich um und kehrte in den Gastraum zurück. Mit schamroten Wangen begann der dickliche Jüngling sein Mißgeschick zu erklären und zog Geld heraus, um für den vergossenen Wein und den umgestoßenen Sklaven zu bezahlen. Der Baumeister sah zu und spielte mit der Goldmünze in seinem Ohr. Nachdem er sich von der Unversehrtheit des Sklaven überzeugt hatte, nahm der Wirt jetzt die bronzene Quirri in Augenschein. Diese Nachbildung einer heidnischen Statue der Bienengöttin ­ von den Remusanem eingeführt, als sie vor Jahrhunderten die Stadt eroberten ­ war das Wahrzeichen seines Gasthauses, das unter dem Namen>Der HoniggartenRoseAdlerHoniggartenjungen ManndemütigDrei Esel können nicht gleichze itig aus einem Eimer trinken.GeschichteGib mir<, sagte Zilumi,>den Kopf Hokannens.Du hast vor Gott und deinem Ho fstaat einen Eid geschworen. Den Kopf Hokannens und nichts anderes.Es ist für jeden offensichtlich<, sagte sie,>daß du, wenn du mir das Haupt Hokannens gibst, mir auch sein Leben gibst.Dann<, fuhr Zilumi fort,>da du zugegeben hast, daß sein Leben mir gehört, möchte ich, daß er nicht getötet, sondern befreit wird.TaubenSo grüßt der Schwache seine Feinde.<« Fünftes Zwischenspiel Als die Geschichte über die Engelsritter zu Ende war, war die Brünette auch fertig mit dem Essen. Während sich die übrigen Gäste, einschließlich des wohlbeleibten Priesters, nach und nach um Roilants Tisch versammelt hatten, war sie mit ihrer kleinen Dienerin an ihrem Platz geblieben, umgeben von Hyazinthen und Tigerlilien. Der Wein, den der Gelehrte bezahlt hatte, war ausgetrunken und die Kaufleute sorgten für Nachschub. Man diskutierte die Fähigkeiten Cyrions, der anscheinend nicht nur ein -142- Schwertkämpfer und Rätsellöser war, sondern, bei Luzifael, auch ein Meister der Verkleidung. Roilant, der während der Geschichte stumm vor sich hin gebrütet hatte, beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Irgend etwas wurmte ihn. Er schien sich aber selbst nicht ganz sicher zu sein, was. Der Wein wurde gebracht und auf den Tisch gestellt und dazu noch eine schwarze Flasche, die nicht bestellt worden war. »Was ist das?« Der Wirt eilte herbei. »Das ist unser allerbester Wein. Er ist für den rothaarigen Herrn.« »Ich habe ihn nicht bestellt«, protestierte Roilant unbehaglich. »Nein. Gerade eben war ein Kind an der Küchentür, mit Geld und der Nachricht, daß Euch dieser herrliche Wein serviert werden, sollte.« Die Gesellschaft um und an dem Tisch tat ihre Bewunderung kund. »Wer hat das Kind geschickt?« fragte der Gelehrte. »Er sagte, ein blonder Mann hätte ihn auf der Straße angeha lten und ihm den Auftrag gegeben.« »Ein blonder Narr, einem Straßenjungen Geld anzuvertrauen«, sagte eine der Dirnen weise ­ vielleicht eine Erinnerung an ihre eigene Jugendzeit. »Anscheinend konnte man dem Kleinen aber tatsächlich vertrauen.« »Aber«, erkundigte sich der Gele hrte weiter, »gehörte zu dem Wein nicht vielleicht auch ein Botschaft?« »Nicht daß ich wüßte«, sagte der Wirt des Honiggartens. Roilant betrachtete die Flasche, als hoffte er, daß sie zu ihm sprechen würde. -143- Es war der juwelenverzierte Kaufmann, der sich als nächster zu Wort meldete: »Kann es sein, daß er gehört hat, daß Ihr nach ihm sucht, und Euch das als Entschädigung bringen ließ. Oder als Scherz?« »Das hört sich nach einem Streich an, den ich ihm zutrauen würde«, bemerkte der Priester gemütlich. »Nach allem, was ich gehört hatte, ist er ein Mann von brillantem, wenn auch nicht immer liebenswertem Verstand.« Roilant faßte den Wirt am Arm. »Ist das Kind noch in der Küche?« »Nein, es ist weggelaufen. Mit einer Pastete, die neben der Tür stand. Dies war ein anstrengender Vormittag, Herr. Der alte Prophet, der seine Rechnung nicht bezahlt hat. Die schrecklichen Soldaten des Königs, die grundsätzlich nichts bezahlen und überall nur Unruhe stiften. Jetzt noch diebische Kinder. Und die verdammten Sklaven beschweren sich -« Der Wirt machte sich eilig davon. Roilant saß unbeweglich wie ein Stein, während seine Freunde die schwarze Weinflasche untersuchten und schließlich für ihn öffneten, wobei sie sich natürlich nicht enthalten konnten, reihum davon zu kosten. Roilant schien es nicht zu merken. Sehr langsam breitete sich ein ungeheuerlicher Verdacht auf seinem pausbäckigen Gesicht aus. Er starrte auf die leere Nische, einmal, zweimal, starrte in die Luft... Aber es war völlig unmöglich ­ oder etwa nicht? »Der Weise«, brachte er schließlich heraus. »Das stinkende Vieh«, sagte die Dirne mit den violett geschminkten Augen. »Uns Kühe zu nennen.« »Aber«, sagte Roilant. Er wandte sich verzweifelt an den Karawanenbesitzer, der das Garn von den Assassinen erzählt hatte. »Wenn Cyrion sich schon einmal als so ein heiliger Mann verkleidet hat, haltet Ihr es nicht für denkbar -?« -144- Die Erleuchtung kam allen gleichzeitig. Flüche wurden ausgestoßen und rasch wieder verschluckt, als der Priester sich räusperte. Die Stimme des Gelehrten ertönte als letzte. »Die beiden Soldaten schienen ihn aber als das zu erkennen, was er war, Weiser und Unruhestifter. Und ich selbst«, fuhr der Gelehrte fort, »hatte das zweifelhafte Vergnügen einer langen Unterhaltung mit ihm. Seine Bildung war fehlerhaft, aber alles in allem umfassend. Auch war ich ihm so nahe, daß mir bestimmt aufgefallen wäre, wenn etwas mit ihm nicht gestimmt hätte.« »Nicht unbedingt«, gab der Priester zu bedenken. »Cyrion ist der König der Verkleidung und ein unvergleichlicher Schauspieler. Wenn ich mir auch keinen vernünftigen Grund dafür vorstellen kann, könnte er sich doch ohne weiteres in unserer Mitte aufgehalten und uns alle genarrt haben. Anschließend ließ er diesen Wein bringen, um unseren edlen jungen Gönner hier zu necken.« Sogleich drehte sich ein lebhaftes Gespräch um diese Vermutung, bis der edle Gönner aufstand und gleich wieder auf seinen Stuhl gedrückt wurde. »Nein, nein. Bleibt hier. Ihr holt ihn jetzt doch nicht mehr ein.« Sie hielten die Weinflasche, die für ihn gekauft worden war, über seinen Becher und drängten ihn, zu trinken. Mit einer Geste, die zeigte, daß er sich besiegt fühlte, gehorchte Roilant. »In der Tat«, sagte der fette Priester wohlwollend, »beschränkt sich der Streich vielleicht nur auf den Weisen. Cyrion könnte immer noch hier sein. So gut wie jeder hier in diesem Raum ist verdächtigt.« »Außer, natürlich, den Damen«, meinte der Kaufmann mit dem juwelenbesetzten Kopftuch. -145- Der Priester störte sich nicht an dem Wort. Wie es aussah, hatte er sich aus reiner Kameradschaft dazu entschlossen, so zu tun, als ob die>DamenIchmich<. Die Schwalbe bedeutet nicht nur Freiheit, sondern Freiheit von Fesseln ­ Errettung. Was die Sonne betrifft, sie ist ein seit alters gebräuchliches Zeichen nicht nur für den Himmel, sondern auch für Gott. Also bilden die Lilie, die Schwalbe und die Sonne, wie Ihr zugeben werdet, einen Satz in Bilderschrift, den man übersetzen kann mit Gott errette mich. Ein gebräuchlicher Ausdruck in den meisten Sprachen, damals -159- wie heute. Der König auf dem Ritt in die Schlacht flüsterte ein letztes Gebet. Der Mann auf dem stolpernden Pferd stieß einen Schreckensruf aus. Der Magier, der spürte, wie sein Haus unter den Erdstößen erbebte ­ wer konnte ahnen, daß er tot war, bevor die Mauern ihn unter sich begruben? Der Räuber sagte den traditionellen Spruch auf dem Weg zum Galgen. Die Frau schrie in den Wehen. Und Euer Vorfahr, der von der Mauer stürzte, war tot, bevor er den Boden berührte. Der zweite atmete schon nicht mehr, als das Wasser sich über seinem Kopf schloß. Der dritte in seinem Entsetzen über die Verfinsterung der Sonne ­ Gott errette mich riefen sie alle. Und der Ring tötete sie augenblicklich, wie die Gravur es verrät. Diese Worte, die von dem Träger gesprochen werden, lösen einen Mechanismus unter dem Stein aus. Eine haarfeine Nadel dringt in die Haut des Fingers. Gift strömt ein. Ein Dämonengift, so stark, daß es im Bruchteil einer Sekunde tötet. Der Opfer fällt, mit dem Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht und ohne eine sichtbare Wunde. Da Ihr darüber Bescheid wußtet, konntet Ihr den Ring gefahrlos tragen. Aber sollte Eurer Frau eine Katze auf den Schoß springen, würde sie unweigerlich den tödlichen Ausruf tun und augenblicklich sterben. Und ich, der anerkannte Dämonenbezwinger, sollte dieser Szene beiwohnen und Zeugnis ablegen über die Unabwendbarkeit des Schicksals.« »Aber Berdice ist nicht gestorben«, sagte Volf. Er wirkte erschöpft und nicht mehr wütend oder bösartig. Sein schlaffer Mund zitterte, und statt Krokodilstränen für seine Frau vergoß er jetzt echte Tränen für sich selbst. »Zum Glück für die Dame«, meinte Cyrion, »erhielt sie heute Nachmittag Besuch vo n einer Zauberin, die sie dazu überredete, zwei Amulette zu tragen. Diese.« Er deutete auf die seidenen Handschuhe, die Berdice trug und deren zarter Stoff mit dem dünnen, aber undurchdringlichen Stahl aus Daskiriom durchwoben war ­ den keine vergiftete Nadel durchbohren -160- konnte, wie fein sie auch immer sein mochte. Berdice bewegte sich. Cyrion befreite sich behutsam von der Katze, beugte sich über das Mädchen und faßte sie an den Ellbogen. Mit einem Ruck zog er sie auf die Füße. »Der Schreck über die zweite Katze hat Euch geheilt«, sagte Cyrion streng. »Ihr könnt wieder gehen. Versucht es.« Berdice starrte ihn mit offenem Mund an und tat dann einen unsicheren Schritt. Sie schrie auf und versuchte einen zweiten. Sie schrie weiter und setzte wieder einen Fuß vor den anderen. So führte Cyrion sie aus dem Zimmer. Auf der Schwelle drückte er ihr eine purpurne Seidenschnur in die Hand, aber sie bemerkte es kaum. Volf schien sie auch vergessen zu haben, eine Vergeßlichkeit, die ihr später nur zugute kommen konnte. Als Cyrion in das Speisezimmer zurückkehrte, hämmerten die Wachen schon an die Tür. Volf war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Auf den Mosaiktisch neben ihn legte Cyrion den Ring. »Hängen ist eine langwierige und unangenehme Angelege nheit«, murmelte Cyrion leicht angewidert. Als sie in das Speisezimmer stürzten, fanden die Wachen nur einen Mann und der war tot. Volf lag über dem Tisch, die Bernsteingemme an der Hand, einem entsetzten Ausdruck im Gesicht und ohne eine sichtbare Wunde. Sechstes Zwischenspiel Mittlerer Tumult folgte der Geschichte des Priesters. Die meisten der Gäste an Roilants Tisch waren inzwischen leicht berauscht. Selbst der Gelehrte hatte sich mit -161- halbgeschlo ssenen Augen zurückgelehnt, und um seine schön geformten Lippen spielte ein Lächeln. Der dickliche junge Mann mit dem ingwerfarbenen Haar war weder betrunken noch in der Stimmung dazu, obwohl der Wein seine Wangen rot gefärbt hatte. Er wirkte eher bedrückt. Von dem Augenblick an, als die Wahrsagerin in der Geschichte aufgetaucht war, war er auf seinem Stuhl herumgerutscht und hatte um sich geschaut, als hätte er Angst, verrückt zu werden. Als kurz vor dem Ende der Geschichte die katzenhafte Brünette inmitten ihrer Tüllwolken und Perlen von ihrem Tisch aufstand und, gefolgt von ihrer Dienerin, die Treppe am anderen Ende des Raumes hinaufging, war Roilant stumm und zur Untätigkeit verdammt außer sich geraten. Kaum daß die Erzählung beendet war, stand er auf, wehrte protestierende Hände ab und entschuldigte sich mit unaufschiebbaren Geschäften. Aufgrund dieser Geschäfte wurde es ihm gestattet, sich zurückzuziehen und einer der Kaufleute schwankte neben ihm durch den Vorhang, während er sich in den höchsten Tönen über die unglückliche Berdice erging. »Ein Juwel, ein Engel. Was gäbe ich für ein so einfältiges, liebreizendes Eheweib.« »Sie hat mein Mitgefühl«, sagte Roilant. Seine Stimme klang übertrieben ernst. Dann, neben der Quirristatue, sagte Roilant schwitzend: »Die Frau, die vor einigen Minuten den Raum verlassen hat. Habt Ihr sie gesehen?« »Ein appetitliches Paket. Aber, da bin ich sicher, ganz und gar nicht einfältig.« »Aber groß und starkknochig.« »Gewiß, ein begehrenswertes und wollüstiges Geschöpf.« »Ihr mißversteht mich. Könnte sie... könnte sie nicht auch ein Mann gewesen sein?« Der Kaufmann begann zu lachen. Er lachte, bis er gezwungen war, sich an die Quirristatue zu lehnen. Er hielt sich die -162- schmerzenden Seiten und röchelte. Schließlich, da es seine Blase nicht länger aushielt, verschwand er den Gang hinunter, wobei er immer noch vor atemloser Heiterkeit quiekte. Der Verursacher dieses Ausbruchs blieb zurück und fühlte sich sowohl lächerlich als auch unruhig. Wenn die Frau Cyrion war, sollte er, Roilant, ihr folgen? Und wenn sie nicht Cyrion war, wie würde es aussehen, wenn er die Gasthaustreppe hinaufgaloppierte? Außerdem ­ eine furchtbare Verwirrung ergriff von ihm Besitz ­ was der Priester gesagt hatte, stimmte. So viele von ihnen konnten Cyrion in Verkleidung sein. Der Karawanenbesitzer, dessen staubige Kleidung nicht recht zu seinem Benehmen passen wollte. Der gutaussehende Gelehrte ­ waren die Falten in seinem Gesicht eine Folge des Alters oder geschickter Pinselstriche? Oder die drei Kaufleute, von denen einer, wie Roilant jetzt auffiel, ein Gesicht hatte, das viel zu schmal für seinen Leibesumfang war. Polster? Der Priester kam wahrscheinlich nicht in Frage. Er war tatsächlich ein fetter Mann, ohne die geringste Eleganz. Und doch konnte auch das eine unglaublich geschickte Verkleidung sein. Dann waren da noch die Sklaven. Roilant hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, aber sie waren gut gekleidet und hatten sich die ganze Zeit in seiner Nähe aufgehalten. Esur, zum Beispiel. Vielleicht war Esur mit den weißen Zähnen Cyrion, und der Wirt steckte mit ihm unter einer Decke. Roilant fing an, hin und her zu wandern. Damit war er immer noch beschäftigt, als der Kaufmann von der Latrine zurückkam und bei seinem Anblick ein vergnügtes Kreischen ausstieß. Roilant bedachte ihn mit einem Fluch und entschuldigte sich anschließend. Der Kaufmann klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Unterdessen öffnete sich die Tür zur Straße und Schnauzbart stolperte die Stufen hinab, der kurzgeratene Soldat mit der braunen Oberlippenzier. -163- »Habt Ihr das alte Ungeheuer, diesen heiligen Mann, eingesperrt?« fragte der Kaufmann. Schnauzbart hickste und nickte nachdrücklich mit dem Kopf. Er torkelte an ihnen vorbei und in den hinteren Raum hinein, wobei er dem Händler und Roilant den Vorhang um die Ohren wirbelte. Für jemanden, der so klein geraten war, verstand er es großartig, die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Roilant blickte auf den Gong in der Hand der Quirri und spürte das Verlangen, wild dagegenzuschlagen und >Feuer!Vater<, als überraschte es ihn, immer noch so angesprochen zu werden. Er blickte über die Schulter zu den schwarzen Zelten zwischen den hohen Palmen der Oase zurück, -169- wo das Leben sich nur träge regte, ein Tribut an die gnadenlose Hitze. »Ich glaube ich weiß, wer er ist«, sagte Karuil- Ysem. »Ich werde mit dir zurückreiten. Wir wollen sehen, ob ich immer noch weise bin oder nur mehr ein Narr.« Der Kundschafter stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen, daß es sich herumwarf und in einer Wolke aus rötlichem Sand davonstürmte. Kandis Pferd folgte ebensoschnell. Sie waren verschwunden. Einige der Nomaden, hochgewachsene Männer in ihren langen, schwarzen Gewändern, die Kapuzen zum Schutz vor der Sonne über den Kopf gezogen, saßen in dem spärlichen Schatten der Palmen und schauten Karuil und dem Kundschafter hinterher. »Was hat das zu bedeuten?« fragte einer von ihnen. Ysemid, Karuil-Ysems Sohn, vollführte die bei den Nomaden übliche Geste, die einem Augenzwinkern gleichzusetzen war. »Jemand ist uns gefolgt, behaupten die Kundschafter. Vielleicht einer der Engelsritter, eine Taube, die ihr Nest am falschen Ort gebaut hat.« »Wer die Löwen der Wüste verfolgt, sollte sein Fleisch in acht nehmen«, zitierte sein Nachbar. Ysemid nickte. Er war hübsch, jung und stolz und trug einen Saphir in einem Ohrläppchen. Überall in der schattenbetupften Oase fanden sich weitere Hinweise auf seinen Reichtum. Eine seiner drei schönen Frauen brachte ihm einen Trunk in einem mundgeblasenen Glas auf einem ziselierten Silbertablett. Sie war schwarz gekleidet, wie alle anderen, aber an Gürtel, Handgelenken, Ohren und Stirn funkelten Juwelen und der Schleier, der Mund und Kinn bedeckte, war mit dünnen Goldplättchen bestickt. »Mein Vater, der>Vater<«, sagte Ysemid, »wird uns seinen -170- Leichnam bringen, so er ein Feind ist. Wenn nicht, so werden wir sehen.« Auf einem Hügel zwischen den Dünen hielten Karuil und der Kundschafter auf ihren Pferden. Der Verfolger, der sich jetzt in Sichtweite befand, näherte sich stetig und unbeirrbar. Wahrscheinlich hatte er sie entdeckt, ließ sich aber nichts anmerken. »Seht wie er die Füße setzt, Vater. Er kennt den Sand.« »Allerdings.« »Und das Haar.« »Ich sehe.« Noch eine Minute und der Gegenstand ihrer Beobachtungen hob den weißblonden Kopf. Ohne stehenzubleiben schaute er zu ihnen hin. Bald war er nahe genug, daß sie die Züge seines leicht gebräunten und atemberaubenden Gesichts erkennen konnten. »Ein Edelstein Gottes«, bemerkte der Kundschafter mit verächtlicher Bewunderung. Es war der Ausdruck für große Schönheit und wurde gewöhnlich als Beleidigung gebraucht. Die Nomaden, ruhelose Wanderer, erbarmungslose Kämpfer, die nach einem starren, manchmal blutigen Kodex lebten, glaubten, die wahrhaft Schönen seien auch die wahrhaft Nutzlosen. »Ein Edelstein«, stimmte der alte Mann zu, »aber in einer Fassung aus Stahl. Ja, er ist der eine, von dem ich annahm, er sei es.« Karuil- Ysem schwang sich aus dem Sattel ­ er war erstaunlich gelenkig. Er wartete, während der Nicht-Fremde gelassen und mit ausdruckslosem Gesicht das letzte Stück des Hügels hinter sich brachte. Als der junge Mann noch zwanzig Schritte entfernt war, sagte Karuil, noch immer in der Sprache der Nomaden: »Die Wüste -171- blüht unter dem Schritt des ersehnten Gastes.« Daraufhin blieb der Ankömmling stehen und erwiderte fehlerlos in derselben Sprache: »Und Wasser dringt aus dem Felsen bei der Wiederbegegnung mit einem Freund.« Seine Stimme war so schön wie sein Gesicht, und der Kundschafter lauschte mit ärgerlicher Verwunderung. Diese steigerte sich noch, als Karuil ohne weiteres die Arme ausbreitete, der blonde Westländer die letzten Schritte zurücklegte und sich umarmen ließ. »Willkommen, Cyrion«, sagte Karuil. »Euer Willkomm ist willkommen«, antwortete der Edelstein Gottes, dessen Namen Cyrion war. »Wie hast du uns gefunden?« fragte Karuil. »Auf die übliche Weise. Indem ich den Zeichen folgte, die das Volk Karuils für die zurückläßt, die ihm in Freundschaft verbunden sind.« »Mein Kundschafter ist erstaunt.« Cyrion sah den Kundschafter an und bedachte ihn mit einem unerträglich bezaubernden Lächeln. »Es fuhren viele Wege zur Weisheit, und Staunen ist einer davon«, zitierte Cyrion ein nomadisches Sprichwort. Karuil lachte. Es war selten zu hören, dieses dürre, belustigte Krächzen. »Cyrion hat unter uns gelebt. Er ist auch ein Schwertkämpfer und Abenteurer, den man in den Küstenstädten und auch in dem gelb ummauerten Heruzala kennt, das jetzt ein Tummelplatz der Westländer ist.« »Und befolgt er auch«, fragte der Kundschafter, »die Lehren des Propheten Hesuf, wie wir es tun und wie die Westländer zu tun vorgeben?« »Ich leugne nicht Klugheit und Tugend in den Lehren Hesufs«, erwiderte Cyrion liebenswürdig. »Wie vielleicht auch -172- Ihr, stolpere ich manchmal über diesen einen Satz, der verlangt, ich soll es ge nießen, zweimal ins Gesicht geschlagen zu werden.« Der Kundschafter riß die Augen auf und grinste dann. »Du wirst uns zu den Zelten begleiten?« erkundigte sich Karuil. »Es war meine Absicht, wenn es gestattet ist.« »Es ist gestattet.« Karuil stieg nicht wieder in den Sattel, und Cyrion führte das Pferd des Wüstenkönigs an den quastengeschmückten Zügeln. Der Kundschafter trabte ein Stück voraus. Eine Zeitlang herrschte Schweigen, nur unterbrochen von dem leisen, mahlenden Geräusch des nachgebenden Sandes. Schließlich, als sie die letzte Erhebung hinuntergingen und die Oase in Sicht kam, sagte Karuil: »Und dir geht es gut, Cyrion?« »Nicht so gut, wie es einmal war.« »Eine Wende des Schicksals?« »Eine Wende«, die melancholische Stimme zögerte, »in gewisser Weise. Ich bin in die Wüste zurückgekommen, weil ich einige Fähigkeiten neu erlernen muß, die ich einst beherrschte und die mir aus Mangel an Übung wieder entglitten.« »Die Muskeln des Geistes ­ du warst vollkommen. Was bedrängt dich?« Wieder ein Zögern. Der Mann, der vor ihnen ritt, war nicht so weit entfernt, daß er nicht hätte hören können, was gesprochen wurde. »Mein Kundschafter ist vertrauenswürdig«, sagte Karuil. »Aber wir können auch in meinem Zelt darüber sprechen.« Cyrion murmelte: »Vater, ich habe keinen Grund, irgendeinem Eures Volkes zu mißtrauen. Es ist besser, ich sage es Euch gleich. Ohnehin fürchte ich, daß es schon sehr bald nötig sein wird.« Wieder ein Zögern. Dann, kalt und hart: »Ich -173- leide unter einer Krankheit des Gehirns, die krampfartig auftritt und an sich nicht tödlich ist. Es beginnt mit einer leichten Störung der Sehkraft, steigert sich zu einer vorübergehenden Blindheit und endet mit Schmerzen in einer Kopfseite, die viele Stunden andauern. Die Ursachen sind zahlreich und unerforscht. Drogen lindern im allgemeinen den Schmerz, und für jemanden, der ein friedliches Dasein führt, ist diese Krankheit zwar unangenehm, aber erträglich. Aber Ihr könnt beurteilen, Vater, wie gefährlich sie für einen Mann ist, der von seinem Schwert lebt.« Karuil blieb stehen. Weiter unten glitzerte das Wasser in dem Trinkbecher der Oase. Der Kundschafter hatte sein Pferd gezügelt. Er blickte auf das Lager hinab und lauschte unverhohlen dem Gespräch, das hinter ihm geführt wurde. »Du?« sagte Karuil-Ysem zu Cyrion. »Leider ja, ich. Habt Ihr nie von einer solchen Erkrankung gehört? Die remusanischen Kaiser litten darunter. Ich befinde mich also in bester Gesellschaft. Was meine Lage nicht bessert.« »Die Ursache?« Cyrion zuckte die Schultern und lächelte, als wäre gar nichts. »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ein Schlag auf den Kopf, von denen ich einige hinnehmen mußte. Oder eine Art von Hexerei ­ auch damit habe ich ein- oder zweimal zu tun gehabt... Mein unstetes Leben. Was immer die Tür öffnete, der Gast kam herein. Und wenn ich auch trotz aller Schmerzen ein Schwert führen kann, könnte es sich als schwierig herausstellen, gegen einen Mann zu kämpfen, den ich nicht sehen kann.« Das Zelt Karuil- Ysems stand abseits, nahe am Wasser, in einem grünen Netz aus Schatten. Im Inneren hing eine parfümierte Bronzelampe an Ketten, die in einem verwirrenden Muster zwischen den Zeltstangen gespannt waren. Diese Vorrichtung war notwendig, weil die Ketten kein Kreuz bilden durften. Vor Hunderten von Jahren wäre der Prophet Hesuf -174- beinahe an einem Kreuz gestorben, hätte ein Aufstand unter dem Volk ihn nicht gerettet. Aus diesem Grund verabscheuten die Nomaden alles, was einem Kreuz ähnlich sah. Dieser Abscheu äußerte sich sogar in der Form ihrer Schwerter, die halbmondförmig gekrümmt waren. Karuil- Ysem saß unter der Lampe, zwischen den seidenen Kissen und sah durch den geöffneten Zelteingang, wie die Sonne unterging. Cyrion hatte er auf den Platz an seiner Seite gewinkt. Man hatte ihnen Wein, Dattelsaft und Zuckerwerk gebracht. Diese Süßigkeiten und den Wein, erklärte Karuil, verdankte er der Großzügigkeit seines Sohnes. Ysemid verbrachte jetzt viel gewinnbringende Zeit in den Städten. Über die schimmernde Wasserfläche hinweg war Ysemids Zelt zu sehen. Als die Hitze des Nachmittags langsam erstarb, vergnügten sich dort schwarzgekleidete Männer mit wilden Pferderennen; Staub und Schreie stiegen in den fahlen Himmel. Nachdem er aus Höflichkeit von den Speisen aus Daskiriom und Heshbel gekostet hatte, saß Cyrion in scheinbar träger Behaglichkeit und stützte das Kinn auf die beringte linke Hand, während Karuil mit unerwartetem Appetit weiter aß und trank. Schließlich meinte Cyrion beiläufig: »Ich nehme an, hier kann uns niemand belauschen?« »Nein«, sagte Karuil und zerteilte eine Pastete. »Während Euer eifriger Kundschafter bereits die traurige Neuigkeit meiner Erkrankung verbreitet.« Karuil blinzelte. Die pergamentdünnen Lider senkten sich halb. Es war ein Zeichen für ungeteilte Aufmerksamkeit. »Der Kundschafter? Ich habe dir gesagt, daß er nichts verraten würde.« »Aus welchem Grund dann habt Ihr mich bewogen, vor ihm zu sprechen?« Karuil legte die Pastete nieder. Auf dem alten Gesicht breitete -175- sich ein Ausdruck verschlagener Spannung aus. Ganz langsam wurden hinter den Lippen die langen Zähne sichtbar. »Was ich dir sagte und die Wahrheit müssen nicht ein und dasselbe sein.« »Ihr entzückt mich. Die Idee, noch mehr Gerüchte in Umlauf zu bringen, erschien mir langweilig, um nicht zu sagen geistlos.« »Also spielst auch du mit der Wahrheit. Deine Krankheit ist eine Lüge.« Cyrion betrachtete Karuil einige Augenblicke lang und ließ den Blick zu dem lauten Treiben auf der anderen Seite des Teiches wandern. »Die Krankheit«, sagte Cyrion ruhig, »war ein nützlicher Zufall. Ich wurde angewiesen, unter einem Vorwand hier aufzutauchen, oder etwa nicht?« »Dann ist es eine Tatsache ­ diese Blindheit -« »Sie tritt nur in größeren Zeitabständen auf. Die Dinge, die ich bei Eurem Volk gelernt habe, habe ich nicht vergessen und brauche ich nicht neu zu erlernen. Ihr könnt Euch vorstellet, daß ich sie im Falle einer Krankheit angewendet hätte. Ob sie nun helfen würden oder nicht.« »Dann«, sagte Karuil, »bist du nur gekommen -«, es folgte eine lange Pause, und schließlich: »weil ich dich gerufen habe.« »Was ziemlich albern von mir war, da Ihr mir nicht zu trauen scheint.« »Daß ich überhaupt nach dir gerufen habe, beweist, daß ich dir mehr als jedem traue. Wie hast du meine Nachricht erhalten?« »An einem der Orte, die ich gelegentlich aufsuche und an dem Ihr sie hinterlassen hattet. Wie sonst? Wenn ich sie richtig gedeutet habe, wolltet Ihr mich wissen lassen, daß Ihr Euch in Gefahr befindet.« Karuil, der die Pastete wieder zum Mund geführt hatte, legte -176- sie auf das Tablett zurück. Seine Augen nahmen einen täuschend schläfrigen Ausdruck an. »Ah. Ich dachte nur, daß du es so auslegen würdest.« »Ich habe mich geirrt.« »Nein. Er ist mein Feind.« Jetzt kamen die Worte hastig, und seine Stimme hatte einen scharfen, bitteren Klang. »Er will nach Art der Städte leben. Er suhlt sich in ihrer Verderbtheit und dem Luxus. Er behängt seine Frauen mit Gold und sein Zelt mit Juwelen und schickt diese Süßigkeiten, um mir die Zähne zu ziehen.« Karuil schlug nach dem Tablett, und das Konfekt rollte über den Boden wie bunte Würfel. »Einen Ta ttergreis will er aus mir machen. Wie einen alten Löwen will er mich einlullen und dann die Falle zuschnappen lassen.« Cyrion wartete einen Moment, bevor er bemerkte: »In Eurem Volk ist Vatermord das schlimmste Verbrechen und wird mit der grausamsten Strafe geahndet. Wird Ysemid das riskieren?« »Ich weiß es nicht. Aber ich glaube schon. Oh, nicht gleich. Es gibt solche unter uns, die ihn lieben, die seine Pläne bewundern. Er würde unsere Zelte vor den Stadtmauern aufschlagen und uns zu Händlern und Gauklern herabwürdigen und sich mit seinen Frauen auf dem Bett wälzen, während die Knochen unserer Söhne dürr wie Stöcke und unsere Töchter zu Huren werden.« Karuil brach ab. Er hatte die Stimme nicht erhoben. Nur die Worte verrieten seinen Zorn, er selbst saß so still wie ein Adler auf seinem hohen Felsen. »Nur ich«, sagte er, »stehe ihm im Weg. Ja. Er wird mich töten. Also habe ich nach dir geschickt. Nach dir, der einst in meinem Volk lebte und wie ein Sohn für mich war. Du erinnerst dich daran?« Leise erwiderte Cyrion: »Ich erinnere mich. Ohne Karuil- Ysem wäre ich nicht der, der ich bin. Was wollt Ihr, das ich tue, Vater Eures Volkes?« »Im Augenblick nichts. Bleibe hier und warte, wie ich.« Der alte Mann trank Ysemids Wein, genoß ihn, als wäre er -177- das Blut eines Feindes, das die Nomaden wie die Dämonen in früheren Tagen getrunken hatten. »Dann«, nickte Cyrion, »werde ich warten.« »Sie werden dir ein Zelt errichten. Du wirst wieder einer von uns sein. Aber diese Krankheit deiner Augen, sie bereitet mir Kummer.« »Nein. Ich bin es, dem sie Kummer bereitet. Wenn Ihr mich braucht, stehe ich zu Eurer Verfügung.« Ein Schatten fiel in das Zelt, Cyrion und Karuil- Ysem, richteten den Blick darauf. Unvermittelt kam der Mann, den der Schatten angekündigt hatte, um das Zelt herum. Es war unwahrscheinlich, daß er, selbst wenn er gelauscht hatte, viel verstanden hatte. Sie hatten leise gesprochen, und der Lärm von der anderen Seite der Oase, der eben erst nachließ, mußte ihre Worte übertönt haben. Der Mann verneigte sich nach Art der Nomaden vor Karuil. »Der Prinz Ysemid bittet Euch, Vater, auch ihm das Vergnügen zu gewähren, Euren Gast zu begrüßen.« Cyrion erhob sich und betrachtete die Bronzelampe, die sich jetzt auf einer Höhe mit seinem Gesicht befand, während Karuil zu ihm sagte: »Ja, geh zu meinem Sohn, Cyrion. Der junge Löwen muß seinen Willen haben.« Höflich erklärte Cyrion sich einverstanden. Als er mit Ysemids Boten durch die Oase ging, versuchte der Mann ihn auf eine hochtrabende, manchmal verletzende Art auszufragen. »Der Prinz fragt sich, wer Ihr sein könnt ­ Ihr tragt unsere Kleidung und seid doch von dem blassen westlichen Blut. Es wird behauptet, daß Ihr unter uns gelebt habt. Warum erinnern wir uns nicht an Euch?« »Vielleicht sind wir uns zu der Zeit nicht begegnet oder ich muß zu meiner Schande annehmen, daß ich es nicht wert bin, -178- daß man sich an mich erinnert.« »Ha! Bei uns zu leben ­ hat Eure eigene Mutter Euch vor Abscheu in der Wüste ausgesetzt und ist davongelaufen?« »Mütter sind notwendigerweise anhänglich. Sie können sich mit fast allem abfinden. So wenige von uns würden sonst überleben.« Sie bewegten sich durch die Herde der schwarzen Zelte. Über kleinen Feuern briet Fleisch. Wo das Wasser sich in einem kleinen Tümpel sammelte, hockten Frauen bei ihren Krügen und klatschten. Als die beiden Männer herankamen, blickten sie auf und kicherten. Bei Cyrions Anblick wurden ihre Augen groß und schmelzend. Da sie immer bei den Zelten bleiben mußten, hatten sie noch nicht oft einen Westländer zu Gesicht bekommen. Er, mit seinem Haar wie der Himmel kurz vor Sonnenaufgang, seiner hellen Haut und Wimpern, die länger waren als ihre eigenen, war ein Wesen aus einer anderen Welt. Am Rand der Oase waren die Pferderennen vorüber. Ysemid saß auf einem Teppich vor seinem Zelt und nippte aus einem gläsernen Becher. Um ihn hatten sich seine Günstlinge versammelt, standen oder saßen herum, scherzten und tranken. Die drei schönen Frauen glitzerten um die Wette. Wenn das Sonnenlicht auf ihre Gesichter fiel, konnte man sehen, daß ihre Schleier so dünn waren wie Rauch, ein Bruch der Tradition. Als er Cyrion herankommen sah, stand Ysemid auf und hob die Arme zu einer Geste der Begrüßung und der Freude. Der Kundschafter war nirgends zu sehen, aber zweifellos war er hier gewesen, bevor er auf seinen Posten vor dem Lager zurückkehrte. »Seht«, verkündete Ysemid, »die weiße Katze ist ein Freund, oder mein Vater, der Vater, hätte ihn getötet. Kommt, Freund von Karuils Volk.« Cyrion trat vor und duldete die Umarmung. Ysemids Gefolgschaft drängte heran, täschelte ihn und strich über sein -179- Haar. Ohrringe und Zähne blitzten, und die tiefstehende Sonne überschüttete das Bild mit einem Fächer aus schräg einfallendem Licht. Ysemid drängte Cyrion einen Becher Wein auf. Cyrion kostete und stellte ihn beiseite. Einer von Ysemids Freunden drückte ihm den Becher wieder in die Hand. »Ist er nicht nach Eurem Geschmack?« Ysemid war besorgt. »Ein wenig steinig. Der Wein aus Andriok ist besser, wenn Ihr schon bereit seid, einen so hohen Preis dafür zu bezahlen.« »Ein Kaufmann! Er kennt meinen Wein und seinen Preis. Was könnt Ihr sonst noch Wunderbares tun, Freund von Karuils Volk?« Cyrion lächelte strahlend. »Ihr solltet mich nicht überschätzen.« »Aber ich wittere ein Genie. Kommt«, Ysemid legte Cyrion einen Arm um die Schultern, »wir haben aus Heshbel Pferde mitgebracht. Kommt und seht. Sagt uns, was Ihr von ihnen haltet.« Die jungen Männer drängten vorwärts, und Cyrion wurde mitgeschoben. Zwei von Ysemids Frauen senkten züchtig den Blick, als er vorüberging. Die dritte schaute ihm nachdenklich hinterher. Der Saphir an Ysemids Ohrläppchen funkelte und blitzte. Wieder und wieder fing er das Sonnenlicht ein und verwandelte es in ein buntes Feuerwerk. Der Anblick schien Cyrion gleichzeitig zu faszinieren und abzustoßen. Die Pferde standen im Schatten von fünf Palmen, bis auf einen Hengst, der von mehreren Knaben festgehalten wurde und doch ausschlug, stampfte und den Kopf warf. »Was«, fragte Ysemid, »glaubt Ihr, stimmt mit diesem Pferd nicht? Es hat zwei meiner besten Reiter abgeworfen. Kaum waren sie oben ­ da waren sie schon wieder unten.« -180- Cyrion schwieg, während das Gefolge sich vor Lachen ausschüttete. Das Pferd schüttelte den Kopf, als wollte es ihn vom Hals reißen. »Vielleicht hättet Dir, erlauchter Gast meines Vaters, Lust, Euer Können zu beweisen.« »Nein«, erwiderte Cyrion. »Ich bedauere, aber ich habe keine Lust.« Die Fröhlichkeit verschwand aus den lachenden Gesichtern, als hätte man sie mit einem Tuch weggewischt. »Aber soll ich denn glauben, daß Ihr Angst habt?« »Glaubt lieber, daß ich bemerkt habe, daß dieses Tier ein Hengst und kein Wallach ist und daß sich rossige Stuten in der Nähe befinden.« Entzückt schrie Ysemid auf. »Habe ich nicht geahnt, daß er ein Genie ist? Wein, Pferde...« Die helle Stimme eines Knaben m eldete sich außerhalb des vergnügten Kreises. »Ein kleines Stück von den Zelten entfernt, bei der umgestürzten Palme steht eine Unterkunft für den Fremden bereit.« Cyrion bot Ysemid die stolze Ehrenbezeigung des Ostens und bat um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Voller Liebenswürdigkeit winkte Ysemid ihm seine Erlaubnis zu. »Geh, gesegneter Edelstein Gottes.« Zweifellos fiel ihm auf, daß der Westländer sich nur langsam bewegte. Er machte keine Anstalten, sich umzuschauen, und als er das abseits stehende Zelt erreichte, das Karuil ihm zugedacht hatte, bückte er sich sofort hinein und ließ den Türvorhang hinter sich zufallen. Ysemid spuckte in den Sand, eine seltene Geste bei denen, die -181- früh lernen, das Wasser zu achten. Die rote Blume des Sonnenuntergangs öffnete sich, erblühte und verblaßte. An dem klaren schwarzen Himmel gleißten die Sterne der Wüste. Als die Sterne der Feuer in dem Lager der Nomaden erloschen, trat Ysemid aus seinem Zelt, reckte sich und lächelte, als drinnen eine schläfrige Frauenstimme murmelte. Leise wanderte Ysemid durch das Lager und um die Wasserstelle herum und beantwortete unterwegs einen Anruf der Wachen mit einem geflüsterten Scherz, für den er mit einem Kichern belohnt wurde. Wenige Schritte vor dem Zelt Karuils schöpfte der Prinz eine Handvoll Glanz aus der Oase und trank. Neben dem Eingang, der mit einem Tuch verhangen war, blieb der junge Mann stehen und fragte leise: »Mein Vater?« Nach einem Augenblick ertönte von drinnen die alte Stimme. »Was ist?« »Störe ich Euch? Es ist Euer Sohn, Ysemid. Ich habe etwas auf dem Herzen. Darf ich hereinkommen?« »Alte Männer brauchen wenig Schlaf. Tritt ein.« Ysemid schlüpfte in das Zelt. Der Anblick, der sich ihm bot, war recht eigenartig. Auf den Kissen unter der schwach brennenden Bronzelampe saß Karuil- Ysem, Vater seines Volkes, stopfte sich mit süßen Geleefrüchten voll und spülte mit Sorbett und duftenden Weinen nach. Viele Tabletts und viele Becher standen vor ihm, nach denen die klauenartigen Finger sich gierig ausstreckten, auch hörte er bei dem Eintritt seines Sohnes nicht auf zu essen. Immer noch lächelnd und immer noch sehr leise, sagte Ysemid: »Was für ein abstoßendes Geschöpf ist das Schwein.« Karuil, der auch jetzt seine Mahlzeit nicht unterbrach, erwiderte: -182- »Knecht und Mietling, der ich bin, verzehre ich meinen Lohn.« »Ihr steht kein Lohn zu, Schändlicher; denn du bist ein Sklave.« »Und wie lange muß ich noch dein Sklave sein?« »Bis ich mit dir fertig bin.« »Bis du sicher bist?« Die alten Augen glitzerten wie Messerspitzen. »Aber wie kannst du jemals sicher sein, lieber Sohn? Du hast mit uns gespielt; wie sollten wir dich da je vergessen?« »Du vergißt schon. Du vergißt, daß ich eine Sicherheit habe.« »Eines Tages könnte deine Sicherheit verloren gehen.« »Das glaube ich nicht. Und nun berichte mir, was der Westländer dir in diesem Zelt gesagt hat.« Karuil- Ysem schob ein mit Puderzucker bestäubtes Stück Lakritz in seinen Mund und kaute, während der junge Mann die Stirn krauste und unruhig die Fäuste ballte. Schließlich war Karuil fertig und antwortete: »Er sagte, was du erwartest hast, das er sagen würde, nachdem er gekommen war, wie du es erwartet hast. Er sagte, er wüßte, daß ich mich von dir bedroht fühle und daß er mir gegen dich beistehen würde. So bat ich ihn, auf mein Zeichen zu warten. Aber da ist noch etwas.« »Und was?« Karuil hob ein Stück Nougat an die Lippen, und mit einem Fluch trat Ysemid einen Schritt vor. Karuil senkte die Hand mit der Süßigkeit und strahlte ihn hinterhältig an. »Daß die Krankheit, von der er sprach, ihn tatsächlich befallen hat; denn er hat es vor mir zugegeben.« Ysemid vergaß das kleine Ärgernis und nickte. »Das dachte ich, obwohl es sich unglaubhaft anhört. Er verkroch sich in seinem Zelt. Er hat einen Anfall. Einer, den ich nach ihm schickte, fand ihn schlafend wie einen Toten ­ oder -183- Betäubten. Wie dem auch sein mag, ich habe diese weiße Hauskatze nie gefürchtet.« »Nein, geliebter Sohn?« Ysemid schlug den alten Mann ins Gesicht, so daß er zwischen die Kissen und die Süßigkeiten fiel. Auf dem Boden liegend zischte Karuil: »Geh behutsam mit mir um. Ich bin morsch und könnte zerbrechen. Das würde nicht in deine Pläne passen.« »Und du, widerwärtiger Freund, paß auf! Die Süßigkeiten können für dich ebenso schädlich sein wie meine Faust.« »Es ist ja nur für kurze Zeit«, sagte der gefällte König. »Es gelüstet mich nach dem Ungewohnten. Ich bin dein Sklave. Etwas mußt du mir zugestehen.« »Sehr bald wirst du haben, wonach es dich eigentlich gelüstet.« Karuil richtete sich wieder auf. Die Bewegung war eigenartig flüssig und schlangengleich. »Du meinst die Freiheit? Ja, danach gelüstet es mich. Wie meine Schwester auch. Solche wie uns zu binden, o Bürschchen, heißt, in einem Korb aus trockenen Weiden ein Feuer zu entzünden.« »Tatsächlich? Wir werden sehen.« Ysemid hob den Vorhang vom Eingang. Als er aus dem Zelt trat, blickte er zu den Sternen hinauf und dann über die Schulter auf die unheimliche Gestalt zwischen den Kissen. Laut: »Gottes Segen auf Euch, mein Vater.« Das Gesicht zu einer furchtbaren Fratze verzogen, antwortete Karuil: »Und das Licht des Himmels scheine auf dich, Ysemid.« Ysemid kehrte nicht gleich zu seinem eigenen Zelt zurück. Er schlenderte zum Rand der Oase, wo mit den Palmen auch die Zelte aufhörten. Ein letzter zersplitterter und sterbender Baum erhob sich dort, mit einem letzten Zelt darunter. Leise trat -184- Ysemid heran, hob den Vorhang und blickte hinein. Im Licht der Sterne erkannte er den schlafenden Mann, der sich in das Schwarz der Nomaden gehüllt hatte. Eine Strähne blonden Haares fiel seidig über eine mit funkelnden Ringen geschmückte Hand. Daneben lag griffbereit das Schwert. Aber Cyrion, so schien es, schlief wie der Mond in dieser Nacht. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn jetzt zu töten, aber unter diesen Umständen würde sein Tod nicht gut aussehen. Es gab reizvollere Arten. Ysemid ließ den Vorhang fallen und ging. Aus dem Schatten zweier Palmen schaute Cyrion ihm nach. Cyrion, das Haar ­ von dem er sich vorher eine Strähne abgeschnitten hatte ­ mit Asche eingerieben und in der schwarzseidenen Kleidung der Westländer, die er unter seinem Nomadengewand trug, war in der mondlosen Nacht kaum zu erkennen. Nicht einmal die Ringe funkelten an seiner linken Hand, denn diese eine Mal hatte er sie abgenommen und an fünf Schilfrohre gesteckt, die nun unter dem abgeschnittenen Haar über dem Schwert neben dem ausgestopften Gewand lagen. Nur das Messer hatte er mitgenommen. Diese aufwendigen Vorbereitungen waren ein voller Erfolg gewesen. Den Freund Ysemids, der vor einer Stunde aufgetaucht war, um Cyrion zu besuchen, hatten sie jedenfalls überzeugt. Vielleicht hatte der schläfrige Seufzer, den Cyrion großzügig beigesteuert hatte, noch dazu beigetragen, die Glaubwürdigkeit des friedlichen Bildes zu erhöhen. Über den Teich hinweg konnte man hören, wie Ysemid wieder mit den Wächtern scherzte. Cyrion glitt wie ein huschender Schatten zwischen den Bäumen und Zelten hindurch, erreichte das Zelt Karuil-Ysems und betrat es ohne weitere Umstände. Der Vater schlang Süßigkeiten in sich hinein, wie schon vorher, nach der ­ belauschten ­ Unterhaltung zu urteilen. Jetzt starrte der alte Mann ihn an, den Weinbecher in der einen Hand, -185- Zuckerwerk in der anderen. »Die Wohltaten der Nacht«, sagte Cyrion. »Immer noch hungrig?« Karuil faßte sich langsam. »Ich hörte, du wärest krank.« »Manchmal ist es möglich, einen Anfall hinauszuschieben oder zu verhindern. Im Augenblick habe ich keine Schmerzen und sehe sehr gut.« »Warum bist du hier?« »Ich sah Ysemid zu Eurem Zelt gehen.« »Du hattest Angst um mich?« Cyrion war gelinde erstaunt. »Welch anderen Grund hätte ich haben können?« Karuil sank in die Kissen zurück, stellte den Weinbecher beiseite und langte nach einem Pokal mit Sorbett. Cyrion trat vor, nahm den Pokal und reichte ihn dem alten Mann. Als er sich zu Karuil beugte, geschah etwas, das anscheinend mit Cyrions linker Hand zu tun hatte. Ein matter Blitz fuhr von Karuils Hals bis zu seiner Schärpe hinab. Im gleichen Augenblick flog der Becher durch die Luft, eingehüllt in einen Sprühregen aus duftendem Fruchtsaft und Cyrion sprang zurück, das blinkende Messer in der Hand. Mit aufgerissenem Mund starrte Karuil ihn an. So offen wie sein Mund war auch sein Gewand. Cyrions Messer hatte es vom Kragen bis zur Hüfte aufgetrennt, und zwischen den Stofflappen war die knorrige, dunkle Brust eines sehr starken und sehr alten Mannes zu sehen. Das und noch etwas. Über dem Herzen gab es zwei schwarze Wunden, zackig, tief und blutleer. Tödliche Wunden, die einen Monat oder mehr alt waren. Ob Cyrion blasser war als vorher, war schwer zu sagen. Aber sehr leise machte er eine Bemerkung über Gott, die nicht den Beifall eines Priesters gefunden hätte. -186- Dann griff das untote Ding ihn an, mit einer Behändigkeit, die es nicht hätte haben dürfen, und in der rechten Hand, an der noch Schokolade klebte, hielt es Karuils Krummschwert. Cyrion war nur mit einem Messer bewaffnet. Er duckte sich und kam mit einem Polster wieder hoch, das in seiner Reichweite gelegen hatte. Es fing den ersten Schwerthieb auf, was ihm nicht gut bekam. Der zweite Hieb wurde mit noch mehr Wucht geführt und schnitt das Polster beinahe in zwei Teile. Als die größere Klinge in der Seide steckenblieb, stach Cyrion mit dem Messer nach Karuils Gesicht. Das Schwert kam frei und Karuil sprang zurück ­ eine Reflexbewegung, denn der Messerstich war nur eine Finte gewesen. Ohne Zweifel konnte Karuil weder verletzt noch getötet werden ­ beides war bereits geschehen, und doch sprang er hier herum wie eine Heuschrecke. Aber das, das war nicht Karuil. Die Augen dessen, was einmal ein Mensch gewesen war, brannten voller Haß und zorniger Verwirrung. Cyrion sollte jetzt noch nicht sterben und die Zeit seines Todes wollte Ysemid selbst bestimmen, so viel hatte Cyrion herausgefunden. Ysemid, dessen Sklave dieses Ding war Cyrion glitt unter dem dritten Schwerthieb hinweg und schleuderte seinem Gegner die Reste des Polsters entgegen. Der Kissenstapel war die letzte Station seiner Reise. Als er ihn erreicht hatte, wobei er elegant der tiefhängenden Lampe auswich, drehte er sich um und machte eine eindeutig ermunternde Handbewegung in Richtung des lebenden Leichnams. Mit einem hungrigen Knurren warf dieser sich nach vorn. Cyrion sah ihm entgegen. Dann bewegte er sich wie ein Blitz. Seine Hände packten die Bronzelampe und stießen sie durch das Zelt. Den Bruchteil einer Sekunde später und Cyrion lag bäuchlings auf den Kissen. Er schien dort gefällt worden zu sein, aber das Schwert hatte ihn nicht getroffen. Es zerteilte über ihm die Luft, die sichelförmige Klinge schnitt durch den leeren Raum, der von seinem Körper hätte ausgefüllt sein sollen. Dann -187- ertönte ein anderes Geräusch: das unerbittliche, gedämpfte Dröhnen von schwerem Metall, das nachdrücklich mit einem menschlichen Schädel zusammenstieß. Mit einem erstickten Grunzen taumelte das Geschöpf, das Karuil gewesen war, zurück und fiel. Cyrion seinerseits fuhr von den Kissen empor und sprang ihm nach. In weniger als einem Augenblick hatte er den klauenbewehrten Fingern das große Schwert entwunden. Kaum einen Atemzug später schwang die Klinge in die Höhe und erstarrte, als eine Frauenstimme leise und spröde wie ein abgenagter Knochen sagte: »Nein. Tu es nicht -« Cyrion senkte weder das Schwert noch schaute er sich um. Er blickte in die starren und jetzt entsetzten Augen, die in Karuils totem Gesicht lebten. Die Lampe hatte die Augenbrauen versengt. Wäre das Fleisch darüber noch lebendig gewesen, hätte man vielleicht eine blutunterlaufene Stelle gesehen. Genau hinter Karuil war ein Tropfen Öl aus der Lampe gefallen und brannte schwelend. Ohne hinzuschauen, streckte Cyrion den Fuß aus und löschte die Flämmchen. Im Gesprächston bemerkte er: »Enthauptung. Eine der wenigen Todesarten, die ein Dämon wirklich fürchtet.« »Ja«, wisperte die Stimme im Zelteingang. »Wir sind Dämonen, mein Bruder und ich. Bedenke, wenn du über uns und unsere Art Bescheid weißt, daß unsere Macht des Nachts und an dunklen Orten größer ist. Töte ihn, und du hast es mit mir zu tun.« »Nun«, erwiderte Cyrion sanft, »es scheint, daß dein Bruder jemanden ermordet hat, den ich einigermaßen schätzte. Diesen Mann, dessen Körper er jetzt wie einen Handschuh benutzt. Vielleicht bin ich Vernunftgründen nicht zugänglich.« »Keiner von uns, weder er noch ich, hat Karuil- Ysem getötet. Es war sein Sohn, der ihm das antat, viele Tage und viele Nächte bevor du hierher kamst. Es scheint, daß er nach dir -188- geschickt hat, aber du kamst zu spät. Höre die Geschichte, bevor du urteilst.« Einen Moment lang bewegte Cyrion sich nicht. Dann senkte er das Schwert. Er trat einen Schritt von dem Leichnam Karuils zurück, und stieß die Klinge in ein Kissen, hob den Dolch auf, den er hatte fallen lassen, und schob ihn in die Hülle. Erst dann blickte er zum Eingang des Zeltes. Die junge Frau, die dort vor dem geschlossenen Vorhang stand, hatte das Zelt so lautlos betreten wie er selbst, trotz der kostbaren Ziermünzen an ihren Kleidern und der Juwelenschnüre an ihrem Gürtel. Ihr unverschleiertes Gesicht war außerordentlich schön, und wo der Schleier ihr Haar sehen ließ, hatte es die leuchtende, pfirsichgoldene Farbe, wie sie bei weiblichen Dämonen häufig vorkam. Aber ihre langen Fingernägel waren mit Goldfarbe bemalt. Es war Ysemids dritte Frau. Der falsche Karuil versuchte zu ihr hinzukriechen. Die Frau holte zischend Atem und kniete sich nieder, um ihm zu helfen. »Ja«, überlegte Cyrion. »Den Körper eines alten Mannes kann man dazu zwingen, sich mit der Geschmeidigkeit eines Jünglings zu bewegen, aber es hat unangenehme Folgen. Ich bin überrascht, daß so viel Gefühl in den Nerven erhalten bleibt und so viel Erinnerung in dem Gehirn. Sogar der Geschmackssinn. Für jemanden, der sich sonst ausschließlich von rohem Fleisch und Blut ernährt, müssen diese süßen Erfahrungen aus zweiter Hand überwältigend sein.« Die Dämonin drückte den lebenden Leichnam an ihre Brust. »Ich habe von jemandem deines Name ns erzählen gehört«, sagte sie voller Widerwillen. »Und ich habe von euch gehört«, gab er liebenswürdig zurück. »Oder vielmehr von eurer Art.« »Ja. Die Nomaden kennen uns und glauben an unsere Magie.« -189- »Und ich wurde von Nomaden erzogen.« »Du wußtest es sofort.« »Nicht sofort.« Cyrion schien durch sie hindurch ins Leere zu blicken. Aber sie beging nicht den Fehler, ihn für unachtsam zu halten. »Ich vermutete es. Nur ein Dämon, sagt man, hat die Macht, in einen toten Körper zu schlüpfen und zu machen, daß er sich bewegt.« »Sein eigenes Volk glaubt, daß Karuil lebt.« »Wenn er sie umarmt, müßten sie bemerken, daß sein Herz nicht schlägt.« »Das hat dich aufmerksam gemacht?« »Das, und andere Dinge. Das geliehene Hirn machte deinem Bruder die Erinnerung zugänglich, daß ich für Karuil-Ysem einst wie ein Sohn war, aber diese Erinnerung erstreckte sich nicht auf die genauen Umstände. Sein Wissen war lückenhaft. Das hat mich gewarnt. Es gab noch anderes. Zum Beispiel machte Karuil sich nichts aus Zucker und nur wenig aus Wein. Mit dem Alter mochte er solche Gelüste entwickelt haben. Aber diese Dinge von dem Mann anzunehmen, dem er am meisten mißtraute? Der Vater seines Volkes wäre nicht ein solcher Tölpel gewesen.« »Du hast Karuil geliebt und willst Rache«, sagte die Frau und blickte durch den Schleier ihrer rosiggoldenen Haare auf Cyrion. »So? Meinst du?« Sie sagte: »Deine Rache und die unsere könnten Hand in Hand gehen. Er hat Sklaven aus uns gemacht, dieser Ysemid.« Als sie den Namen aussprach, furchten ihre bemalten Krallen den Boden. »Du hast von einer Geschichte gesprochen. Erzähl sie mir.« »Höre also. Es gibt eine heilige Stätte weit von hier in der Wüste, einen verfallenen Schrein. Dorthin kam er, Ysemid. Er war auf der Jagd und schien einem Wild bis zu dem Brunnen im -190- Hof gefolgt zu sein, aber es war ihm entkommen. Statt selber auch fortzureiten, zog er sich Wasser herauf und trank. Es war Mittag. Mein Bruder schlief. Ich sah Ysemid, und seine Schönheit erweckte in mir Lust und Hunger. Ich schuf mir ein Trugbild, das mich in Lumpen zeigte, und ging zu ihm als eine Bettlerin, irgendeine Ausgestoßene, die sich in diesen Schrein geflüchtet hatte. Wir sprachen miteinander, und er bot mir zu essen an, wenn ich mit ihm liegen würde. Ich wußte, daß er nichts zu essen bei sich hatte und mich hintergehen wollte, aber ich willigte freudig ein, denn es paßte in meinen Plan. Wir legten uns in den Schatten der Mauer...« Die Dämonin zeigte wütend ihre Zähne. »Ich muß dir erklären, daß er nicht die Kleidung der Nomaden trug, die klug sind und vor uns auf der Hut. Hätte ich ihn als das erkannt, was er war, wäre ich ihm aus dem Weg gegangen. Aber er trug die Kleidung der Städter ­ ich hielt ihn für den Sohn irgendeines Händlers, leichte Beute. Und wenn erst die Sonne unterging und mein Bruder erwachte -« Die scharfen Zähne knirschten aufeinander. In ihren Armen flüsterte der Leichnam, der ihren Bruder gefangenhielt, von seinem Haß. »Ysemid hatte ein Amulett«, sagte sie. »Es war von einem Zauber umhüllt, denn ich hatte es gesehen und hielt es für nichts mehr als einen Edelstem. Ich erinnere mich, daß ich es als Spielzeug behalten wollte, wenn wir mit ihm fertig waren. Dann, als er sich auf mich legte, berührte das Ding meine Schulter und ­ brannte. Sofort richtete er sich auf, und dann lachte er, wie über einen großartigen Scherz. Jetzt benutzte er auch die Sprache der Nomaden. Er sagte:>Du bist genauso, wie ich es erwartet hatte.AdlerDer OlivenbaumRitter und Burg<überredete, um ihn dann fünfmal zu -222- schlagen, war Eliset freundlich und rücksichtsvoll. In den folgenden zwei Tagen erfand sie eine Aus rede nach der anderen, um Roilant aus der Gesellschaft von Onkel und Cousin zu befreien und mit ihm allein zu sein. Sogar ihre Dienerin schickte sie unter irgendeinem Vorwand zum Haus zurück. Eigentlich war es unschicklich, und Roilant, der sehr auf Anstand hielt, fühlte. sich manchmal unbehaglich. Aber Eliset war ein Muster an Zurückhaltung. Sie deutete an, daß sie auf seine Ritterlichkeit vertraute. Sie brachte es zustande, daß er sich selbst ritterlich vorkam, ein für ihn so überwältigend neues Gefühl, daß er gar nicht recht wußte, was es denn war. Sie gab ihm den Glauben, klug zu sein, und einmal, als er eine Wespe tötete, die sie boshafterweise verfolgte, mutig. Er hatte sie für langweilig gehalten? Sie blendete ihn. Sie lachte glockenhell, wenn er einen Scherz versuchte. Sie gestand, daß sie unglücklich war und noch immer um ihren Vater trauerte. Sie war tapfer. Sie war ein Juwel. Sie war makellos. Und als er ging, weinte sie, ohne ihm gegenüber von der vorgesehenen Heirat erwähnt zu haben. Roilant kehrte nach Hause zurück und verkündete, daß er sie mit Vergnügen nehmen wollte. Und verbrachte die nächsten drei Monate damit, im stillen Kämmerlein grausliche Gedichte über ihr schimmerndes Haar und ihre geheimnisvollen Augen zu verfassen. Ihre Verlobung erfolgte auf brieflichem Wege. Wie es schien, war sie so feinfühlend erzogen worden, daß es das beste war, noch ein oder zwei Jahre zu warten. Roilant, am Boden zerstört und gleichzeitig erleichtert ­ seine große Liebe zu heiraten war eine erschreckende Aussicht -, war mit der Abmachung einverstanden. Ein Jahr verging. Ein zweites. Sie sandte ihm ein paar gepreßte Blumen mit einem kurzen Briefchen. Und einmal ein Paar billige Handschuhe, die nicht paßten. Er wußte, wie sie gestellt war, und hielt sie in Ehren. Dann wurde Roilant nach Westen geschickt, um seine lückenhafte Bildung zu vervollständigen, vertiefte sich in die Kultur jener kalten Länder -223- und blieb geraume Zeit dem Königreich, das seine Vorfahren im Osten erobert hatten, fern. Als er auf die Besitzungen seines Vaters in Heruzala zurückkehrte, fühlte er sich welterfahren und sah seiner Vermählung mit Ungeduld entgegen. Die wenigen Frauen, die ähnliche Gefühle in ihm erweckt hatten, hatten nur die Erinnerung an Elisets Reize verstärkt. Es gab Neuigkeiten. Der alte Mervary war gestorben. Der junge Mervary war eifrig damit beschäftigt, das wenige (sehr wenige), das aus Flor noch herauszuholen war, zu verschwenden. Als er sich gerade aufmachen wollte, um zu retten, was noch zu retten war, sah er seine Pläne durchkreuzt. Sein eigener Vater, der gerade am Hof des jungen Königs weilte, hatte sich an einer eigentlich gar nicht ungewöhnlichen Jagdgesellschaft beteiligt. Diesmal aber stürzte er vom Pferd und schwebte in Lebensgefahr. Da er ein ausgezeichneter Reiter war, löste dieser Unfall einiges Erstaunen aus. Roilant eilte zu der Stadt, wo sein Vater im Sterben lag, aber die rechte Trauer wollte sich nicht einstellen. Es gab keine Liebe zwischen Vater und Sohn und keine Bindung. Aber in einer solchen Stunde war es angemessen, so zu tun als ob, und beide gaben sich Mühe. In einem abgedunkelten Zimmer des Palastes sprachen sie eine Zeitlang miteinander. Dann gab es eine überraschende Enthüllung. »Hör zu, Junge«, sagte Roilants Vater, rückte sich schmerze rfüllt in dem weichen Bett zurecht und unterdrückte einen Fluch, »du bist mein Erbe, und ich möchte dir einen guten Rat geben.« »Ja, Vater?« »Du erinnerst dich an deine Verlobung mit deiner Cousine Eliset?« »Natürlich, ja, Vater. Ich wollte -« -224- »Tu es nicht.« Verblüfft starrte Roilant ihn an. »Tu es nicht?« stotterte er. »Habe ich einen Papagei aufgezogen? Ich sage dir, tu es nicht. Es wurde noch nichts festgelegt. Eine kleine Bestechung hier und da, und die Sache ist vergessen.« »Aber sie ist eine Beucelair und arm. Und du hast ihrem Vater und ihrem Onkel versprochen -« »Und ich selbst habe ihr letzten Monat eine Nachricht geschickt und ihr mitgeteilt, daß ich dir von der Verbindung abraten werde.« »Warum?« »Warum?« Roilants Vater zog ein finsteres Gesicht. »Du hast etwas Besseres verdient. Einiges ist mir zu Ohren gekommen, und manches habe ich selbst herausgefunden. Du bist ein junger Mann mit festem Charakter. Im Herzen haben wir uns immer verstanden. Vertraue mir. Such dir ein nettes, häusliches Mädchen, das dich zu schätzen weiß. Eine mit einer ordentlichen Mitgift.« Roilant öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sein Vater unterbrach ihn erneut. »Verdammt seien diese Schmerzen«, sagte er und starb. Roilant vergoß zwei oder drei Tränen, hauptsächlich, weil es sich schickte, und teils, weil es oft niederschmetternder ist, jemanden zu verlieren, den man nie richtig kennen gelernt hat, als einen guten Freund. Sohnespflicht war etwas anderes. Aus Pflichtgefühl seinem Vater gegenüber, verzichtete Roilant in diesem Sommer darauf, seine Cousine Eliset zu besuchen. Als ein mit minderwertigen Steinen besetztes, billiges Amulett bei ihm eintraf, »um ihn in seinem Verlust zu trösten«, antwortete er höflich, aber zurückhaltend. -225- Erst in dem Winter nach seinem neunzehnten Geburtstag erfuhr er von den Gerüchten über die junge Dame, die seine Braut hatte werden sollen und über das Leben, das man jetzt auf Flor führte. Der Mann, der ihm die Augen öffnete, stand am Hof des Königs in hohem Ansehen und der Brief, in dem er ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, wurde von seinem eigenen Diener überbracht. Der Brief selbst war nicht unterzeichnet. Scheinbar verhielt es sich so, daß Eliset weder lieblich noch keusch war; denn sie war das Liebchen ihres braungelockten Vetters und auch noch anderer. Aber das war gar nichts im Vergleich zu ihren anderen Gewohnheiten. Roilants Informant drückte sich in dieser Hinsicht nicht besonders deutlich aus, sprach hin und wieder von>Aberglauben der Unwissenden<, ohne gesagt zu haben, worum es denn eigentlich ging. Was Roilant schließlich zwischen den Zeilen herauslas, besagte, daß es auf Flor spukte und Eliset einer geheimen Schwesternschaft von Hexen angehörte, in die sie von ihrer alten Amme eingeführt worden war. Es wurde erzählt (o oft wiederholte und nichtssagende Redewendung!), daß Eliset schon im Alter von neun Jahren durch Zauberei den Tod ihrer Halbschwester Valia herbeigeführt hätte. Und daß sie auch für den Tod von Valias Mutter und ihres eigenen Vaters und Onkels verantwortlich sei. Sogar der Tod von Roilants Vater kam in Frage. Er, ein unübertroffener Reiter, war abgeworfen worden ­ kurze Zeit nachdem er dem Mädchen die Einheirat in den wohlhabenden Zweig der Familie Beucelair verweigert hatte. Wie nicht anders zu erwarten, endete der Brief mit der Bemerkung, daß jeder reiche Mann, der Eliset heiratete, damit rechnen mußte, schnell und ohne Nachkommen zu sterben und sein Vermögen seiner Frau zu hinterlassen. Damals hatte Roilant noch nicht so ganz an Zauberei geglaubt. Und dennoch wuchs ein nagender, unerklärlicher Zweifel in ihm, ein Zweifel, den er, wie er sich eingestand, seit dem Tode seines Vaters mit sich herumtrug. Roilant zerbrach -226- sich nicht übermäßig lange den Kopf über die Angelegenheit, aber über drei Dinge war er sich im klaren. Erstens, daß er Eliset noch nicht mitteilen würde, daß er nicht länger die Absicht hatte, sie zu heiraten, zweitens, daß er sie nicht heiraten würde, und drittens, daß er ihr eine Apanage zukommen lassen wollte, um sein Gewissen zu beruhigen. Gesagt, getan oder vielmehr nicht getan, je nachdem. Eliset schickte einen Brief, worin sie sich herzlich für die Apanage bedankte. Nur ein einziger kleiner Satz störte, in dem sie schrieb, daß sie sich auf ihr nächstes Zusammentreffen freute. Aber wieder vergingen Jahre. Roilant kam zu der Erkenntnis, daß er Frauen bevorzugte, die nicht übermäßig schön waren und keine übermäßigen Ansprüche stellten, und fand immer größeres Gefallen an weiblicher Gesellschaft. Schließlich entdeckte er eine ideale Partnerin. Sie stammte aus gutem Hause, hatte ein schlichtes Äußeres und nur eine spärliche Mitgift, dafür aber einen gesunden Menschenverstand, ein stilles und doch lebha ftes Wesen und eine bezaubernde Neigung zur Fröhlichkeit, die Roilants Herz wärmte, denn sie richtete sich nie gegen ihn. Zwar verspürte er niemals das Bedürfnis, Gedichte für sie zu schreiben, aber trotzdem ertappte Roilant sich eines Tages dabei, wie er in ihres Vaters verwildertem Garten zu dieser jungen Dame sagte ­ sie hatten sich gerade über einen hypothetischen Wanderer unterhalten, der sich in der Wüste verirrte - : »Wenn ich mich in der Wüste verirren würde, würde ich alles daransetzen, wieder zurückzufinden. Ich würde Euch vermissen -« Das und das unerwartete, aber erfreuliche Erröten der betreffenden Dame, brachten Roilant zu der Überzeugung, daß es an der Zeit war, gewisse Schritte zu unternehmen. Deshalb machte er die Bekanntschaft von einigen Anwälten und war auf dem besten Wege, die vor neuneinhalb Jahren geschlossene Verlobung zu lösen, als Er verstummte. Die braune Katze saß kerzengerade auf Cyrions Schulter und starrte Roilant an. Cyrion starrte nicht, aber er wandte auch nicht -227- den Blick ab. »- als«, fuhr Roilant schließlich fort, »Dinge geschahen, von denen ich nur ungern sprechen würde, wenn Ihr mit dem Okkulten nicht so vertraut wäret.« Erstens wurde der Brief, den die Anwälte aufgesetzt und nach Flor gesandt hatten, von einem Boten, den niemand beschreiben konnte, zu Roilants Haus in der Nähe von Heruzala zurückgebracht. Als er den Brief öffnete, merkte Roilant, daß das Schriftstück sich einigermaßen verändert hatte. Es war in viele kleine Schnipsel zerrissen und als diese zu Boden flatterten, gerieten sie in Brand. Nur ein Augenblick, und außer Asche war nichts mehr davon übrig. »Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet«, sagte Roilant. »Was jeder gedacht hätte.« »Tatsächlich?« »Ich jedenfalls dachte es damals.« Als nächstes befreite sich der schäbige Talisman, den er nach dem Tod seines Vaters erhalten hatte, aus einer von Roilants Truhen, flog ihm durch ein offenes Fenster ins Gesicht und verursachte eine schmerzhafte Prellung. Als er das Ding vom Boden aufhob, verbrannte er sich die Hand. Daraufhin flüchtete er aus dem Zimmer und brauchte eine Stunde, um sich einzureden, daß jemand den Talisman gestohlen, über einem Feuer erhitzt und dann durch das Fenster geworfen hatte. Bei seiner Rückkehr fand er den unglückbringenden Glücksbringer zerbrochen vor, ließ die Reste aufkehren und versuchte, den Vorfall aus seinen Gedanken zu verbannen. Was sic h als recht einfach herausstellte, da in derselben Nacht etwas viel Schlimmeres geschah. Als er gegen Mitternacht erwachte, glaubte er erst von dem draußen tobenden Unwetter geweckt worden zu sein. Aber dann wurde er sich eines abscheulichen Gefühls bewußt, als krabbelte ein ganzer Schwarm von Insekten über sein Gesicht und streiften ihn mit ihren Flügeln. Er fuhr -228- hoch und rieb sich das Gesicht und war sie schließlich losgeworden ­ nur um beim Schein einer hastig entzündeten Kerze festzustellen, daß die Insekten nichts anderes waren, als die gepreßten Blumen, die Eliset ihm nach ihrem zweiten Zusammentreffen übersandt hatte und die jetzt vor Alter ganz braun und mürbe wie Mottenflügel waren. Während Roilant noch dastand und sie verstört betrachtete, wirbelten sie durch die Luft und zerfielen zu Staub. Als der Staub sich herabsenkte, wurde eine Gestalt dahinter sichtbar. Sie war nur gerade eben sichtbar. Das Flackern der Kerze, das Toben des Sturmes und seine eigene Furcht machten es für Roilant noch schwerer, Einzelheiten zu erkennen. Aber sie war dagewesen, eine halb durchsichtige Erscheinung wie Dunst auf einem Spiegel. Schmal und blaß, das Gesicht ein leerer Fleck, umrahmt von Haaren so gelb wie Narzissen. Dann sprach sie zu ihm. Nicht hörbar, sondern die Worte erschienen langsam und deutlich in der Dunkelheit hinter der Kerzenflamme. Sie lauteten: Der Bund ist geschlossen und darf nicht gelöst werden. Du bist mein und mußt zu mir kommen, bevor der Monat herum ist. »Am Morgen«, sagte Roilant, »hielt ich es für einen Alptraum.« »Natürlich«, pflichtete Cyrion ihm freundlich bei. Und zum erstenmal in seinem Leben kam Roilant sich wie ein Narr vor, weil er nicht an das Übernatürliche glaubte. Eingeschüchtert fuhr er fort: »Sieben Nächte lang kam die Erscheinung immer wieder. Dann glaubte ich an Magie. Ich hatte ­ hatte Angst, gebe ich zu. Und das trübe Wetter, der endlose Regen, bedrückte mich in einem nie gekannten Maße. Ich rief einen Mann, der in dem nahe gelegenen Dorf für sein magisches Wissen berühmt war. Er untersuchte mein Schlafzimmer und behauptete, er könne die Zauberei förmlich riechen. Ich roch nur noch den Regen. Aber ich fragte, was ich -229- tun sollte, und er machte sich erbötig, in seinen Büchern nachzulesen. Er ging, und ich sah ihn niemals wieder, auch dann nicht, als ich ihn in seinem Dorf suchte. Mir kam es so vor, als hätte er ebensoviel Angst wie ich selbst. Was dann geschah? Nach sieben Tagen hörten die nächtlichen Heimsuchungen auf, und es trat auch nichts anderes an ihre Stelle. Obwohl ich inzwischen ständig darauf wartete, daß etwas passiert. Aber was sollte ich tun? Reiste ich nach Flor, würde man dieselben magischen Kräfte, die mich gerufen hatten, vermutlich dazu benutzen, mich zu töten. Es schien mir sicherer, zu Hause zu bleiben. Doch dann erreichten mich Nachrichten aus der Stadt.« Die Dame in Heruzala, zu der Roilant sich hingezogen fühlte, hatte ruhig auf der Terrasse ihres Vaterhauses gesessen, als ein Teil des Daches über ihr nachgab und zu Boden polterte. Sie war unverletzt, war aber nur um Haaresbreite dem Tod entronnen. Der Vorfall war äußerst eigenartig, da an dem Mauerwerk kein Anzeichen von Verfall sichtbar gewesen war. Ihr Vater, der Roilant die Nachricht angeblich geschickt hatte, um ihn zu beruhigen, falls Roilant etwas anderes gehört haben sollte, in Wahrheit aber den zögernden Verehrer etwas in Schwung bringen wollte, war tief gekränkt, als er Roilants Antwort erhielt. Roilant drückte seine Erleichterung darüber aus, daß der jungen Frau nichts passiert war, und bedauerte, daß er in der nächsten Zeit nicht dazu kommen werde, sie zu besuchen; bei der nächsten Gelegenheit hoffe er, ihnen seine neue Frau vorstellen zu können. »Was mich betraf, so blieb es sich gleich. Wenn es in ihrer Absicht lag, konnte Eliset mich durch Hexerei töten, ob ich sie heiratete oder nicht. Aber als meine liebe ­ als die Dame, der ich den Hof machte, gleichfalls in Gefahr geriet, wagte ich es nicht, noch länger zu zögern. Noch an jenem Abend schrieb ich einen Brief an Eliset und überredete den Boten mit G eld, in größter Eile nach Flor zu reiten.« »Und was stand in dem Brief?« -230- »Nun, daß ich am letzten Tag des Monats an ihrer Seite sein würde.« »Womit Euch kaum noch so viel Zeit bleibt, wie Ihr für den Weg benötigt.« »Ich war auf der Suche nach Euch.« »Und hier bin ich«, sagte Cyrion. Roilant runzelte die Stirn. »Ich bin kein Märtyrer. Ich will nicht sterben. Oder betrogen werden. Aber ich würde nie das Leben einer Dame aufs Spiel setzen. Und seit ich versprochen habe, meine Cousine aufzusuchen, ist alles ruhig geblieben.« »Gehe ich recht in der Annahme«, sagte Cyrion und hielt still, als die braune Katze ihren Kopf an seiner Wange rieb, »daß Ihr Eure Dame auch in dem Brief erwähnt habt, der Eure Cousine von der Auflösung des Verlöbnisses unterrichtete?« »Ja. Eine Unbedachtsamkeit. Ich hoffte, dieser Grund würde die Zurückweisung für sie erträglicher machen. Außerdem fügte ich hinzu, dadurch, daß ich Eliset seit neun Jahren nicht gesehen hätte, wäre meine Erinnerung an ihre Schönheit verblaßt.« »Äußerst taktvoll«, bemerkte Cyrion. Roilant betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen und ahnte, daß sein Gesprächspartner genau das Gegenteil meinte, wie es ihm selbst auch schon in den Sinn gekommen war. »Zumindest«, sprach Cyrion weiter, »erfuhr Eliset nicht durch Zauberei von Eurer neuen Liebe. Wäre das der Fall gewesen, hätte sie nämlich auf demselben Wege erfahren können, daß Ihr nach mir gesucht habt.« »Gott bewahre uns.« »Eben. Allerdings glaube ich, daß diese Kräfte anderer Art sind. Der Verstand wird benutzt, um die Kraft des Willens zu unterstützen. Der Zauber wirkt nur durch das, was auf gewöhnlichem Wege in Erfahrung gebracht wurde.« Der dickliche Herr breitete erleichtert die Arme aus und stieß -231- seinen Weinbecher um. Angewidert betrachtete er sich die Folgen seiner Ungeschicklichkeit. Die braune Katze allerdings, sprang hocherfreut auf den Tisch und begann sich an der Weinpfütze gütlich zu tun. »Ihr seht, wie es mit mir ist«, sagte Roilant treuherzig. »Ich bin kein gewandter Mann der Tat und habe keinen scharfen und schnellen Verstand. Aber bis man mich ausraubt, bin ich reich. Werdet Ihr mir helfen?« »Wie«, fragte Cyrion, »sollte diese Hilfe Eurer Meinung nach aussehen?« Roilant kannte derartige Fragen aus den Geschichten und weigerte sich, darauf einzugehe n. »Ihr seid die Legende. Deshalb liegt die Entscheidung bei Euch«, sagte er fest. Die Katze hatte den Wein aufgeleckt. Auf unsicheren Beinen tappte sie über den Tisch und fiel Cyrion in die Arme. »Drei Trankopfer sollten Glück bringen«, meinte Cyrion. »Trotzdem kann ich Euch prophezeien, daß Ihr morgen nach Flor reisen müßt. Und zwar so schnell Ihr könnt.« Cyrion in Stein 1. Kapitel Wo die Straße nach Cassireia eine Biegung machte, zweigte ein schmaler Pfad ab, der in vielen Windungen bergauf führte, an Wäldern und Felsen vorbei, und schließlich ohne besondere Absicht zwei planlos angelegte Dörfer berührte. In dem zweiten Dorf endete der Pfad, des Abenteuers überdrüssig. Eine Meile voraus, durch eine Lücke zwischen zwei Bergen, waren die Obsthaine Flors zu sehen und dahinter die grasbewachsene Anhöhe mit dem Herrenhaus und dem Turm auf den Klippen. -232- In früheren Zeiten hatten die Dörfer ganz in der Nähe des Anwesens gelegen. Als die remusische Festung noch den Landstrich beherrschte, hatte es ein Dorf am Fuß ihrer Mauern gegeben. Aber jetzt schienen die kleinen Ansiedlungen sich davongeschlichen zu haben; die Schafe und roten Kühe weideten tiefer am Hang, und am Markttag ritt man in die Stadt, wo einst für einen cassianischen Kaiser ein Palast über dem tiefblauen Wasser der Bucht erbaut worden war. Für jemanden, der kein Kaiser war, mochte die Reise nach Cassireia unangenehm sein. Dem Seitenpfad zu folgen, sich in den zwei Dörfern anstarren zu lassen, die Lücke zwischen den beiden Bergen zu erreichen und auf Flor erst hinab- und dann hinaufzublicken ­ vielleicht noch unangenehmer. Mögliche rweise aber auch ein Grund zur Freude, wenn dieser Reisende Roilant von Beucelair war, der kam, um seine Braut zu holen. Denn mit der Braut erhielt er Flor, ihre einzige Mitgift. Und es brauchte nur ein wenig Mühe und Geld, um das verwilderte Anwesen wieder in alter Schönheit erstrahlen zu lassen. Falls der Ankömmling solche Gedanken gehegt haben sollte, waren die toten Feigenbäume am Rand der Obsthaine durchaus dazu geeignet, sie im Keim zu ersticken. Als wäre ein Pesthauch darüber hinweggegangen, so gründlich war hier alles Leben ausgelöscht. Als nächstes bot sich das niederschmetternde Bild einer Zypresse, die schon vor langen Jahren von einem Blitzschlag gefällt worden war. Und danach eine wahre Flut gesunder Bäume mit wild wuchernden Trieben, Ästen, die sich bis zur Erde neigten, haltsuchend ineinander verschlungenen Ästen, deren Früchte ganze Insektenschwärme anlockten, welche das stickige grüne Licht mit einem nervzermürbenden Summen und Surren erfüllten. Sich auf dem Rücken eines Maultiers durch diesen geräuschvollen Dschungel einen Weg zu erkämpfen, war weder leicht noch besonders unterhaltsam. Kam man endlich unter den letzten Bäumen hervor und erreichte den Fuß des Abhangs, stand man vor der -233- remusischen Mauer, die ungerechterweise noch beinahe genauso aussah wie vor neun Jahren. Während das Herrenhaus kaum noch diese Bezeichnung verdiente. Die Tore, an denen die meisten Metallbeschläge fehlten, standen offen und erweckten den Eindruck, als könnten sie niemals wieder geschlossen werden. Und der Vorhof mit der Zisterne, den Säulen und Palmen war wie eine welkende Rose, deren Blütenblätter eins nach dem anderen zu Boden schwebten. Zerbrochene Ziegel, die vom Dach herabgefallen waren, lagen in dem ausgetrockneten Trog, in dessen klarem Wasser sich einst der Himmel gespiegelt hatte. Steinerne Löwen, über und über mit blauem Moos bewachsen, standen verloren an den vier Ecken. Die Löwen, die Mauern, die Säulen, die Bäume, alles war von Verfall gezeichnet. Unter einer abgestorbenen Palme schlief zusammengerollt ein zerlumpter Junge, und einige aus den Obstgärten abgewanderte Wespen und Fliegen surrten mißbilligend herum. Sonst war kein lebendes Wesen zu entdecken. Der Ankömmling saß unter dem Torbogen auf seinem Maultier und schaute sich um; die untergehende Sonne leuchtete auf seinem lohfarbenen Haar. Seine Haltung drückte ungläubigen Widerwillen aus. Etwas zu wissen, war eine Sache, es zu sehen, eine andere. Hinter ihm hockten die beiden Diener aus Heruzala auf ihren Maultieren. Schließlich erkundigte sich einer von ihnen: »Das ist Flor, Herr?« »Leider.« Der andere schnaufte verächtlich. »Soll ich den Nichtsnutz aufwecken?« »Es scheint unumgänglich zu sein.« Der erste Mann, massiger als Roilant, aber muskulös, schwang sich aus dem Sattel und trat zu dem schlafenden -234- Jungen. Er packte ihn an einer Schulter und zog ihn hoch. Der Junge wachte auf und schlug und trat um sich, schließlich verbiß er sich in den Ärmel seines Angreifers und ließ nicht mehr los. Der zweite Diener sprang aus dem Sattel und eilte seinem Kameraden zur Hilfe. Der Vorfall artete zu einer Prügelei aus, als zwei weitere ungekämmte Burschen von den dürren Bäumen sprangen und sich heulend auf die Fremden stürzten. Der dickliche junge Mann saß auf seinem Reittier, verbreitete den Eindruck äußerster Hilflosigkeit und hätte vielleicht noch bis in alle Ewigkeit dagesessen, während die Prügelei endlos weiterging. Endlich aber öffnete sich mit hörbarem Widerwillen einer der Flügel des Haupttores hinter den Säulen, und dann trat eine Gestalt aus dem Schatten ins Licht. Zwei weiße Hände schimmerten, als sie fest gegeneinandergeschlagen wurden. »Hört auf! Harmul ­ Dassin ­ Zimir, sofort!« Zwei der Jungen sprangen beiseite und fielen auf den geborstenen Steinen hinter der Zisterne aufs Gesicht. Der dritte schien unentschlossen, dann machte er sich davon und verschwand in einem engen Bogengang am Ende des Hofes. Zurück blieben die fluchenden und zerzausten Diener aus Heruzala. Es war offensichtlich, daß es sich bei dem Mädchen mit den weißen Händen um die Herrin des Hauses handelte. Und es schien, das man sie respektierte; denn der eine der unbotmäßigen Diener war geflohen, und die beiden anderen lagen regungslos vor ihr am Boden. Als sie wieder sprach, klang ihre junge Stimme messerscharf. »Schande über euch. Ihr verdient Prügel. Wäre mein Vater noch am Leben, würde er euch auspeitschen lassen. Steht auf! Geht zu dem Herrn und seinen Begleitern. Bittet um Verzeihung.« Der Junge, der die Prügelei angefangen hatte, hob den Kopf -235- und berührte ihr Kleid. Es war aus schimmernder Seide und hatte dieselbe Farbe wie ihr Haar. »Einer hat mich geschlagen«, beteuerte der Junge. Das Mädchen mit dem topasfarbenen Haar sagte nichts, sondern schaute ihn nur an. Langsam erhob sich der Junge, und sein Freund tat es ihm gleich. Sie drückten sich um die leere Zisterne herum und warfen sich jetzt vor dem rothaarigen Mann auf dem Maultier zu Boden. »Vergebung, Herr!« »Vergebt uns!« Der Rotschopf war eindeutig verwirrt. »Gewährt«, murmelte er. »Jetzt steht auf und verschwindet.« »Das geht leider nicht«, rief das Mädchen. »Zimir ist davongelaufen, aber diese beiden müssen sich um Eure Tiere kümmern. Sie sind die einzigen Diener, die wir haben.« Der dickliche junge Mann kletterte steif und unbeholfen von seinem Reittier und übergab es mit offensichtlicher Besorgnis den beiden dienstbaren Geistern. »Aber laßt das Gepäck hier. Meine beiden Diener werden sich darum kümmern.« Während Roilants muskulöser Begleiter den zwei Burschen und drei Maultieren in Richtung des schmalen Bogenganges folgte, beschäftigte sich der andere damit, das Lasttier abzuladen. Ihr Herr wandte sich um und betrachtete das Mädchen, eine schlanke Narzisse vor dem Hintergrund sonnendurchglühten Verfalls. Er schien keine Worte zu finden, und sie war es, die auf ihn zutrat, wobei sie sich so anmutig und geschmeidig bewegte wie eine Tänzerin. »Roilant«, sagte sie leise. »Bist du es wirklich?« »O ja«, versicherte er überflüssigerweise. Sie lächelte zu seinem runden Gesicht hinauf. »Wie du gewachsen bist. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du ein Knabe, und jetzt bist du ein Mann. Und ich, habe -236- ich mich verändert?« Er wurde rot und wußte immer noch nicht, was er sagen sollte, und schien jetzt erst die fadenscheinigen Stellen an ihrem Kleid zu bemerken, das aus der Entfernung neu und kostbar ausgesehen hatte. Die jährliche Geldsumme aus Heruzala schien also anderweitig verwendet worden zu sein. »Du bist«, bemerkte er mit einiger Anstrengung, »so schön wie immer.« Ihre Augen weiteten sich, vielleicht wegen seiner Ungeschicklichkeit, aber sie lächelte immer noch. »Wenn ich es bin«, sagte sie, »dann nur aus Freude darüber, dich zu sehen. Ich dachte, du hättest mich vergessen. Ich bin so froh, daß ich mich geirrt habe.« Seine Augen waren so müde, verquollen und verwirrt. Bestimmt wäre es nicht besonders klug gewesen, zu antworten:>Aber du weißt doch, daß du nach mir geschickt hast, eine Aufforderung, der ich nicht widerstehen konnte. Überredung durch Schwarze Magie.Roilantnein<, schlug er mich. Dann fragte er mich wieder und ich sagte>ja<. Ich lerne schnell, wie du siehst. Drei Jahre lang gab ich ihm das Lippenbekenntnis, nach dem seine Eitelkeit verlangte, und wonach sein Fleisch verlangte, gab ich ihm auch. Ich hieß ihn immer freudig willkommen. Ich lernte auch, seine Gelüste auf die Arten zu befriedigen, die er am liebsten hatte. Du wirst feststellen, daß ich erfahren bin, wenn auch verdorben.« »Und der zweite Mevary«, fragte Cyrion gelassen. »Wie steht er zu dir?« »Er ist mein Liebhaber, wie du weißt.« »Den du liebst wie einen Gott.« Ihre blauen Augen musterten ihm mit scharfer Aufmerksamkeit. »Das hast du also auch gehört? Und es geglaubt, wie er es glaubt? Nein. Er ist nicht mein Gott. Ich liebe ihn nicht, begehre ihn nicht, ich mag nicht einmal seine Gesellschaft. Nach alter Familientradition vergewaltigte er mich. Inzwischen war ich daran gewöhnt. Wie bei seinem Vater, so ist auch sein Liebesspiel kaum mehr als eine Vergewaltigung. Und wie sein Vater ist er ein eifersüchtiger Wicht, einer, der Frauen und Pferde schlägt und es liebt, angebetet zu werden. Also bete ich ihn an.« -306- »Warum?« »Habe ich es nicht gerade erklärt, warum? Wie sonst hätte ich hier leben können? Wie sonst hätte ich überhaupt leben können?« »Ach ja. Du konntest es nicht ertragen, auf dein Erbe zu verzichten, diesen Trümmerhaufen. Also hast du ausgehalten. Und darauf gehofft, daß ich mein Versprechen einhalten würde.« »Du.« Sie war zornig. »Ich hatte gehofft, daß die Ehe mir die Wohltat des Friedens bringen würde.« »Nachdem du dich meiner entledigt hättest.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie verwirrt, unsicher. »Ich fürchte beinahe, daß Mevary etwas in der Richtung vorhaben könnte. Aber ich glaube nicht, daß er aus dem Holz geschnitzt ist. Alles andere, aber das nicht. Für einen Mord braucht es eine Art Grausamkeit, von der ich nicht annehme, daß er sie besitzt.« Sie hockte sich auf die Fersen, betrachtete Cyrion nachdenklich und wurde dann sehr still. Schließlich fragte sie: »Was ist?« »Was denkst du, das es ist?« »Du bist krank.« »Ich habe dir schon an der Tür gesagt, was es ist.« »Gift? Das glaube ich nicht.« »Er sagte mir, daß ich es nicht mehr loswerden könnte. Wie es scheint, hatte er recht. Was den ästhetischen Gesichtspunkt betrifft, so brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mein Tod wird keine Ähnlichkeit mit Jobels haben. Welch ein Glück für uns beide.« Jetzt war sie ernsthaft beunruhigt. Das Licht der Lampe und der Kerzen spiegelte sich in den Schweißtropfen, die langsam über seine Stirn, die Wangen und den Hals rollten. Seine Hände packten die Seitenlehnen des Sessels. Seine Lippen, deren Schwellung so rasch zurückgegangen war, hatten die Farbe von -307- Gips. »Was«, fragte sie, »kann ich tun?« »Ein passendes Gebet?« brachte er heraus. Es fiel ihm schwer. »Ich würde dir nicht raten, mir einen Abschiedskuß zu geben.« Die Schmerzen, denn er hatte ganz offensichtlich Schmerzen, schienen zugenommen zu haben. Sein Körper streckte sich, krümmte sich, sein Gesicht verzerrte sich um die zusammengepreßten Lippen, und seine Augen erstarrten. Ein Blutrinnsal tröpfelte aus einem Winkel seines Mundes. Das letzte, was Cyrion von Eliset sah, als die Qual seinen Blick trübte, war ihre hochaufgerichtete Gestalt, die in das Zimmer zurückwich, bis Gold mit Gold verschmolz. Dann zerbrach die letzte Verbindung mit dem Leben, wie der Stiel einer Blüte. Die Welt verging in einer schwarzen Feuersbrunst, die ihm einen Schrei entrang. Eliset, die wieder am Fenster stand, blieb stehen, den Schrei wie ein Messer in ihrem Kopf. Sie schien zu warten. Als sie an ihn herantrat, um sich zu vergewissern, war er erschlafft und seitlich über die Armlehne des Sessels gefallen. Seine Auge n waren geschlossen, er lächelte schwach, sein Atem war erloschen, und sein Herz stand still. 4. Kapitel Der Anblick eines einzelnen Reiters, der sich in der scharfkantigen Helligkeit des späten Vormittags dem Herrenhaus von Flor näherte, wirkte sich nic ht eben beruhigend auf den in Aufruhr befindlichen Haushalt aus. In der vergangenen Nacht hatte es ein ungewöhnlich betriebsames Kommen und Gehen, Tür auf, Tür zu, gegeben. Nicht jeder war über das Vorgefallene im Bilde und die es waren, zeichneten sich nicht durch besondere Seelenruhe aus. Der einsame Reiter -308- mit seinem Brief, den er am Tor mitleidlos dem zufällig anwesenden Zimir überreichte, war tatsächlich ein Vorbote des Schicksals. Als Zimir zu den Stallungen rannte, wurde er plötzlich einigermaßen grob von einer wolfsmähnigen Gestalt aufgehalten. Der Brief wechselte den Besitzer. Er war an Roilant von Beucelair gerichtet, und Mevary öffnete ihn sofort. Schließlich hatte er guten Grund zu der Annahme, daß Cousin Roilant sich kaum noch dafür interessieren würde. Der Umschlag enthielt zwei Papiere. Das erste, das Unterschrift und Siegel von drei Anwälten trug, bestätigte die Echtheit des zweiten Schriftstücks, das wiederum nur die Abschrift eines anderen war, das an einem sicheren Ort in Heruzala lag. Dieses zweite Schriftstück trug Roilants eigenes Siegel, was Mevary nicht davon abhielt, es gleichfalls zu öffnen. Man mußte nicht unbedingt ein Genie sein, um den Inhalt zu erraten. Roilants Schreiben verkündete, eingekleidet in allerlei blumige Redewendungen, daß bei seinem Tode ­ sollte dieser plötzlich eintreten ­ sein gesamtes Vermögen, Landbesitz, Gelder und Vieh, an keinen geringeren als an König Malban persönlich fallen sollte, seinen verehrten Lehnsherrn. Es war die einzig mögliche und vollkommen siche re Art, auf die ein reicher Mann seine Erben und Angehörigen um ihre Ansprüche betrügen konnte: alles Gott oder dem König zu vermachen. Hatte man es mit hartnäckigen Erben zu tun, war der König die bessere Wahl. Vielleicht eine Stunde danach wisperten Stimmen in dem Obstgartendschungel unter einem von Wespen belagerten Maulbeerbaum. Es war nicht zu erkennen, welcher Mann und welche Frau da in dem brütenden Schatten zischelten, als hätten sie sich ein Beispiel an den Wespen genommen, aber die Stimmen erinnerten sehr an Mevary und Eliset. »Ich habe ihm nichts in den Wein getan. Der Feigling ist vor -309- Angst gestorben«, sagte der Mann, der sich wie Mevary anhörte. »Wirklich nicht, mein Herz?« sagte die Frau zärtlich und in ihren Worten klang dieselbe Spur Gift wie in jener anderen Nacht, als sie sich über einen scheinbar betäubten Schläfer unterhalten hatten. »Nein. Habe ich nicht. Er bildete es sich nur ein. Die Angst hat ihn umgebracht. Außer du -« »Ich?« Erstaunte Unschuld. Herausfordernd sagte er: »Warum nicht du? Oh, süßeste aller Cousinen, du gehst seltsame Wege.« Leidenschaftlich sie: »Du weißt, daß ich dich anbete. Du weißt, daß ich dich bewundere. Verleugne ich denn nicht alle Dinge, alle Menschen und allen Glauben, damit du bekommst, was du dir wünschst?« »O ja, schon gut. Aber ausgerechnet heute diesen blödsinnigen Brief zu bekommen ­ daß das gesamte Vermögen von Beucelair an den König fällt.« »Und wir nun doch leer ausgehen?« »Denk ein bißchen weiter. Ein Testament, in dem Cousin Pudding seine Witwe und alle Verwandten von seinem Erbe ausschließt und alles dem König hinterläßt, wird selbst den guten Malban auf den Gedanken bringen, daß Roilant uns verdächtigte. Sobald man weiß, daß Roilant tot ist, wird man uns als seine Mörder brandmarken.« Ungerührt sie: »Die Witwe wird vor dir an die Reihe kommen.« Verärgert er: »Das hilft mir nicht weiter. So wie unsere Pläne jetzt stehen, einen Unsicherheitsfaktor hineinzubringen -« »Das ist gar nicht nötig.« »Wieso?« Zwischen tiefherabhängenden Ästen, Früchten, Laut und surrenden Insekten blitzten zwei Augenpaare und verkrallten -310- sich ineinander, sinnlich, feindlich, gierig. »Wenn Roilants Tod jetzt ungelegen kommt«, sagte sie, »dann laß ihn jetzt noch nicht sterben.« »Damit kommst du ein bißchen spät.« »Ganz und gar nicht. Er ist nach Hause zurückgekehrt oder fortgeritten ­ je nachdem, wer nach ihm fragt, falls es überhaupt jemand tut. In der Zwischenzeit bette den Leichnam zur Ruhe, und vergiß die ganze Sache.« »Und durch das frisch ausgehobene Grab kommt dann doch alles heraus.« »Nein. In dem Grabmal meines Vaters Gerris ist noch Platz, hast du daran nicht gedacht? Heute nacht legst du den teuren Verstorbenen hinein und schiebst die Platte wieder über das Grab. Harmul und Zimir werden nicht wagen, etwas zu verraten. Nach allem, was du mir erzählt hast, waren sie nicht unschuldig an Roilants Tod. Und diese Frau, die du als deine Sklavin hältst, diese alberne Ziege, der kannst du befehlen, den Mund zu halten. Oder nicht?« Ein Lachen. »Ja. Du bist sehr klug, mein sanftes Liebchen.« Es folgten andere Geräusche und ihre nadelspitze Stimme: »Hier? Mein rustikaler Freund. Erinnerst du dich, wie du mich vergewaltigt hast, damals?« »Und du«, sagte er, »erinnerst du dich, wie gut es dir gefallen hat?« Ihr Lachen war so weich wie Katzenfell, und die grünen Schatten flossen ineinander. Der schimmernde Ozean, blau wie die Farben aus Tynt und mit einem Spitzenbesatz aus weißem Schaum, drang in Höhlen und Schächte und geheimnisvolle Gänge, füllte sie aus und zog sich wieder zurück. Der Tag sprang von der Küste und stürmte über das Wasser. Der Horizont trank die Sonne, eine Meeresgö ttin, die ihr blutiges Opfer empfing. -311- Diese Nacht auf Flor war erfüllt von dem Rauschen von Ebbe und Flut, dem Gesang von ein oder zwei Nachtigallen, metallischem Klirren, schabenden Geräuschen, einem unangenehmen Knirschen, einem Plumps, weiterem Schaben und Knirschen und dem Kratzen von Stein auf Stein. In Cassireia wären diese Geräusche wahrscheinlich kaum aufgefallen. Dort knallten die ganze Nacht hindurch T üren und Fensterläden, Berittene polterten im Auftrag des Gouverneurs durch die Straßen, Betrunkene grölten oder gaben das eben Genossene wieder von sich, Hunde beschwerten sich, und wahnwitzige Hähne, die durch das ständige Aufflammen neuer Lichter und ge legentlicher Brände völlig durcheinander gerieten, krähten pausenlos. Diesem Orchester hatte Roilant gelauscht wie auch schon während anderer schlafloser Nächte in dem Gasthaus neben dem Tempel. Als die Morgendämmerung sich ankündigte und die Hähne schon wieder zu schreien begannen, ob nun aus Verlegenheit oder beleidigter Würde, stand er auf, setzte sich hin und begann mit einem Brief an seine verlorene Geliebte in Heruzala. Aber ihm fiel nichts ein. Vor ihr beruhigendes, wohltuend normales Bild schob sich ein anderes. Eliset. Die Morgendämmerung, gemäß den Schriften des Propheten Hokannen, war eine Zeit der Reinheit und Unschuld unter den Geschöpfen der Erde. Der Löwe kam zur Tränke und labte sich dort gemeinsam mit dem Reh. Der Vogel stieg der Sonne entgegen, dem immer wiederkehrenden Wahrzeichen von Gottes Liebe und Vergebung. Der Sonnenaufgang brachte die Reinigung von allen Sünden. Man konnte ein neues Leben beginnen. In der Wüste, wo der Prophet, wie andere Propheten vor ihm, so lange gelebt hatte (vielleicht zusammen mit der bronzehaarigen Zilumi), war solch ein Bild vorstellbar. Der nahende Tag verlangte nichts weiter als Meditation, Gebet und innere Einkehr, hin und wieder bereichert durch einen -312- räuberischen Ausflug zu den Nestern wilder Bienen oder den Verzehr hilfloser Heuschrecken. In Cassireia brachte die Morgendämmerung nichts als noch mehr Lärm, und schließlich legte Roilant seinen angefangenen Brief beiseite. Schwere Schritte auf der Treppe überzeugten ihn, daß er gut daran getan hatte. Lautes Klopfen an der Tür bestärkte ihn noch in der Überzeugung. Roilant öffnete, und ein großer Mann, der zur einen Hälfte aus Fett und zur anderen aus Muskeln bestand und die Spuren eines langen Rittes an sich trug, betrat den Raum. Unverkennbar handelte es sich bei ihm um den größeren Diener aus Heruzala, der den als Roilant verkleideten Cyrion nach Flor begleitet hatte. Außerdem konnte man in ihm den Verrückten wiedererkennen, der Cyrion auf dem Marktplatz von seinem Maultier gezerrt hatte und dem es dann nicht gelungen war, ihn mit einem entsprechend hergerichteten Dolch zu erstechen. Auf Cyrions Vorschlag hin hatte Roilant ihn in seine Dienste genommen. »Was«, fragte Roilant, »ist geschehen?« »Das Schlimmste«, erwiderte der angeheuerte Mann. Er sagte das nur aus Höflichkeit; denn ihm war alles gleich, solange er bezahlt wurde. »Was meinst du damit>das Schlimmstedie SchlangeGeschöpf<, das aus reiner Energie bestand, konnte ein Meister dieser Kunst aus den Nervensträngen herauslösen und seinem Willen untertan machen. Die gebündelte Elektrizität, die wie eine zustoßende Schlange durch das Rückenmark aufstieg, erreichte schließlich das Gehirn und kam dort zur Entladung. Die Wirkung ähnelte der eines Blitzschlags. Das Herz blieb stehen, und alle Körperfunktionen erstarben. Jeder Arzt mußte den Menschen für tot halten, insbesondere da der Körper auch auf die ausgeklügeltsten Methoden, die jemals entwickelt wurden, um den Tod zu bestätigen, nicht reagierte. Das Bewußtsein allerdings blieb bestehen. Zuerst natürlich war es betäubt und erloschen wie eine Kerze. (Und bei dem Ungeübten blieb es so, bis es schließlich kein Zurück mehr gab.) Cyrion, ein Meister, dessen Fähigkeiten für sich selber sprachen, -327- war nach kaum einer Stunde wieder bei vollem Bewußtsein und beobachtete von dem verdunkelten Wachtturm seines Kopfes, was um ihn herum vorging. In dem Augenblick, als die Untersuchungen beendet waren und zweifelsfrei feststand, daß der Tote wirklich tot war, erweckte er seinen Körper zu einem verhalt enen, unauffälligen Leben. Jetzt, hätte es jemand versucht, war ein Herzschlag zu spüren, wenn auch nur schwach und langsam. Außerdem hätte sich herausgestellt, daß er atmete, aber nur, wenn man ihn noch einmal auf das Sorgfältigste untersucht hätte. Aber zu dem Zeitpunkt hatte jeder, von dem man anne hmen konnte, daß er den Leichnam untersuchen würde, dieses bereits getan. Und um mit den Worten der Nomaden zu sprechen: Wer trägt schon Sand in die Wüste? Also wartete Cyrion eine ganze Nacht, einen Tag und noch eine Nacht an der Grenze zwischen Leben und Tod und wurde wie ein Leichnam behandelt. Diesen gerade so eben noch atmenden Leichnam warf man dann in das übelriechende Grab von Onkel Gerris und legte die Steinplatte wieder darüber. Zu erraten, wohin man ihn verschwinden lassen würde, war nicht so schwierig gewesen. Eliset selbst hatte den leeren Platz in dem Grab erwähnt. Daß man ihn nicht, wie den unglücklichen Jobel, einfach irgendwo verscharren würde, ergab sich aus der Ankunft der an Roilant adressierten Papiere. Wie Mevary mit so bewunderungswürdiger Intelligenz bemerkt hatte: vermacht jemand seinen Besitz dem König statt den rechtmäßigen Erben, ließ das vermuten, daß er einen äußerst unschönen Verdacht gegenüber den besagten Erben hegte. Deshalb war es nicht geraten, Roilants Tod bekannt werden zu lassen, noch durch frisch aufgeworfene Erde die Neugier irgendwelcher Leute zu erregen, die vielleicht vorbeikamen, um sich die Verwandtschaft des großzügigen Erblassers einmal anzusehen. Cyrion hatte das Grabmal unter dem Baum mit den gelben Blüten in der Nacht der Geister aufgesucht. Er hatte eine Zeitlang mit Hammer und Meißel gearbeitet, bis er knapp über -328- der Erdoberfläche an verschiedenen Stellen kleine Löcher in die Grabeinfassung gehauen hatte. Der Stein, der von der Feuchtigkeit schon angefressen war, setzte ihm nicht viel Widerstand entgegen. Die Löcher, obwohl nur bescheidenen Ausmaßes, reichten aus, um jedes lebende Geschöpf im Inneren mit der nötigen Atemluft zu versorgen. Niemand hatte Cyrion- Roilants Körper für die Grablegung vorbereitet. Cyrion hatte nichts anderes vermutet. Bei jemanden, an dem man sich des Mordes schuldig gemacht hat, wäre das der reine Hohn gewesen. Außerdem war wegen des warmen Wetters Eile geboten. Deshalb waren die Polster an Cyrions Körper unentdeckt geblieben, wie auch die nützlichen Gegenstände, die er darin untergebracht hatte. Cyrion in Stein war als etwas Vorübergehendes gedacht und nicht für die Ewigkeit. Sobald der Grabdeckel sich knirschend vor die sternenklare Nacht schob, machte Cyrions Bewußtsein sich daran, den ruhenden Körper wieder ganz ins Leben zurückzurufen. Daß er dieses Sterben und dieses Wiedererwecken schon früher praktiziert hatte, ist unzweifelhaft logisch. Daß eine gewisse Desorientierung und eine mystische Verzückung zu dem Ritus gehörten, ist anzunehmen. Aber auch wenn es so war, ließ sich Cyrion nicht aufhalten. Er traf sofort alle Vorbereitung, um sich aus seinem Gefängnis zu befreien. Auch das war logisch. Das einzig Ungewöhnliche an seinem Vorgehen war, daß er statt zu versuchen, den Grabdeckel beiseite zu schieben, sich entschlossen hatte, nach unten zu entfliehen. Es gab eine Wasserader unter Gerris' Ruhestätte, das verrieten der Zustand der steinernen Grabeinfassung, das Moos und der kleine Baum, der bei dem Grab in die Höhe geschossen war, während überall sonst auf den Klippen nur dürres Gras und eine Handvoll ärmlicher Blumen gedieh. Vielleicht hatte es auch unter dem Spukbrunnen in dem überdachten Gang eine Wasserader gegeben, die in die große Höhle geführt hatte, -329- welche sich unter den Klippen erstreckte. An dem Brunnen konnte man einschätzen, wie dick der feste Grund zwischen der Höhle und der obersten Erdschicht war. Ungefähr zehn Meter massiver Fels, denn das war grob gerechnet die Länge des eigentlichen Brunnenschachts. Andererseits mußte der Fels unter dem Badehaus dünner sein, sonst hätte sich der Boden nicht so weit a bnutzen können, daß der Lichtschein aus der Höhle durch den Boden des Heißwasserbeckens schimmerte. Das Herrenhaus wiederum, obwohl in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls, schien fest auf seinen Fundamenten zu ruhen. Aber außerhalb der Gartenmauer hinter dem Badehaus war der Grund ständig in Bewegung. Die Gräber verlagerten sich, und die Steine hoben sich aus dem Boden. Die Schräglage des Turmes wurde von Jahr zu Jahr bedrohlicher. Der Schluß lag nahe, daß der Fels unter dem Grab weder besonders dick, noch besonders fest war. Nachdem die erste der dünnen Kerzen, die er aus seinem Bauchpolster genommen hatte, brannte, verfrachtete Cyrion den Leichnam, mit dem er seine Unterkunft teilte, in eine Ecke. Es zeigte sich, daß der Boden unter der Leiche morscher war, als auf der anderen Seite, wahrscheinlich eine Folge der Wechselwirkung zwischen verwesendem Fleisch und moderndem Stein. Während nach neuneinhalb Jahren von ersterem nicht mehr viel übrig war, hatte letzteres sich nur noch verschlimmert. Cyrion machte sich an die Arbeit, aber mit Bedacht, denn durch die Löcher kam nur wenig frische Luft herein und das Grab war immer noch stickig und eng. Wo es ging, arbeitete er im Dunkeln, um die drei Kerzen nicht vorzeitig zu verbrauchen. Das Werkzeug, Hammer, Meißel, Stemmeisen und Keile zauberte er aus den Polstern an Brust, Rücken und Armen hervor. Zusammen mit einem langen Seil. Die Aufgabe war schwer, aber nicht hoffnungslos. Schon in den ersten fünf Minuten, als eine große Steinplatte losbrach, -330- wurde der Geruch nach feuchter Erde wahrnehmbar. Zwei Stunden später spürte Cyrion einen Luftzug. Jetzt roch es nicht mehr nach frischem Wasser, sondern nach faulendem Tang und Salz. Als die letzte Kerze fast heruntergebrannt war, lösten sich Fels- und Erdbrocken vom Rand der ganz ansehnlichen Öffnung und stürzten in die Tiefe. Das Poltern und Rauschen war eine ganze Weile zu hören. Cyrion säuberte den Boden des Grabes. Er schlug einen Eisenhaken in den Fels unmittelbar unter dem Loch, befestigte das Seil daran und ließ sich vorsichtig ein kleines Stück hinabgle iten. Dann griff er noch einmal nach oben, nahm die Kerze und stellte sie auf einen passenden Felsvorsprung. Anschließend zog er den nützlichen Leichnam wieder an seinen angestammten Platz, so daß er über der Öffnung zu liegen kam und sie vollständig verdeckte. Dann ließ sich Cyrion in die immer undurchdringlicher werdende Dunkelheit hinunter. Einen Augenblick später machte er Bekanntschaft mit dem kleinen Rinnsal, das er schon seit einiger Zeit gehört hatte. Obwohl das Bad eher unfreiwillig und überdies kalt war, befreite es ihn wenigstens von dem Staub des Grabes. Das Rinnsal begleitete ihn ein kurzes Stück bei seinem Abstieg, bis es in einem Spalt verschwand, der für ihn zu eng war. Bald danach erlosch der schwache Lichtschimmer der letzten Kerze und nur die undurchdringliche Dunkelheit blieb. Was ihn noch erwartete, war ungewiß. Er vermutete allerdings, daß der Spalt, in dem er sich befand, nach vielen Windungen und Biegungen in die Höhle mündete. Während er sich seitlich die schmale Röhre entlangtastete, mußte er daran denken, daß der trügerische Fels, der seinem Werkzeug so schnell nachgegeben hatte, auch unter dem Druck des Eisenhakens brechen konnte, an dem er das Seil, seinen einzigen Halt, befestigt hatte. -331- Aber auch die gefährliche Lage, in der er sich befand, gehörte zu seinem Plan: heimlich und unbemerkt Nachforschungen anzustellen und durch sein Verschwinden so viel Durcheinander und Ungewißhe it wie nur möglich hervorzurufen. Daß Roilant in diesem Akt des Dramas keine Rolle spielte, war Absicht. Roilants schauspielerische Fähigkeiten waren begrenzt. Um andere Leute zu überzeugen, daß er glaubte, Cyrion sei ermordet worden, mußte er es tatsächlich glauben. Daß Roilant aus eigenem Antrieb einen Spitzel nach Flor geschickt hatte, hatte Cyrion beinahe vermutet, aber zu dem Zeitpunkt, als der Söldner seinen Posten bezog, war Cyrion zu sehr mit seiner eigenen Vergiftung und deren Auswirkungen beschäft igt gewesen, um sich noch Gedanken um Spitzel aus seinem eigenem Lager zu machen. Genaugenommen war beabsichtigt, daß Ro ilant auf das Ausbleiben einer bestimmten Nachricht von Cyrion hin mit seinen bombastischen Anschuldigungen in Flor auftauchen und einen gewaltigen Aufruhr bei der Suche nach seinen sterblichen Überresten veranstalten sollte. Da nun Roilant genau wußte, wohin man den Leichnam geschafft hatte, kam die Pointe nicht so recht zur Geltung. Cyrion hatte Gerris' Gebeine über die neu geschaffene Öffnung gezogen, so wie man beim Weggehen eben die Tür abschließt. Glücklicher-, aber auch verständlicherweise war die Überraschung über Cyrions Verschwinden so groß, daß niemand daran dachte, das übelriechende Grab einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Statt dessen durchforschte man aufgeregt die Umgebung. Die Schlußfolgerung, daß der Gefangene, falls er tatsächlich noch in der Lage war, sich zu befreien, sein Heil in den oberen Gefilden suchen würde, war unvermeidlich. Es gab nichts, das zu einer gege nteiligen Annahme hätte führen können. Es wurden die wildesten Vermutungen ­ in denen auch Angst vor dem Übernatürlichen mitschwang ­ darüber angestellt, wie der Dämon in -332- Menschengestalt es fertiggebracht hatte, allein die schwere Grabplatte zu entfernen und dann spurlos zu verschwinden. Die verdutzten Gesichter zu beobachten, hätte Cyrion sicherlich gelindes Vergnügen befeitet, aber er hatte nicht einmal Muße, sie sich vorzustellen, als er sich in der Dunkelheit, nur auf sein Gefühl angewiesen, an dem Seil hinabhangelte. Er befand sich jetzt ungefähr fünf Meter unterhalb der Grabstätte, aber das Gestein, das sich vorher vom Rand der von ihm geschaffenen Öffnung gelöst hatte, schien sehr vieler tiefer gefallen zu sein. Also blieb er weiterhin im Ungewissen, während sein ganzes Gewicht an dem Haken hing, der sich vielleicht jetzt schon aus dem brüchigen Fels löste. Bevor der Haken ihn im Stich lassen konnte oder das Seil zu Ende war, geschah etwas anderes. Seine Füße, die nach einem Halt suchten, fanden nirgends mehr einen Widerstand. Noch behutsamer als zuvor ließ er sich an dem Seil hinab und stellte fest, daß er sich in einem von der Natur geschaffenen Gang befand. Als seine Füße festen, wenn auch abfallenden Boden berührten, konnte er das Meer riechen, und weiter vorne entdeckte er einen Lichtschimmer. Dieser war gerade hell genug, um zu erkennen, daß der Boden tatsächlich sicher und das G efalle nicht zu stark war. Hier war das Geröll aus dem Grab oben aufgeschlagen und weiter in die Tiefe gerutscht, und deshalb hatte Cyrion geglaubt, er müsse sehr viel weiter hinabsteigen, als es nun eigentlich der Fall war. Cyrion versteckte die restlichen Meter Seil hinter einem Felsvorsprung, wie er auch die Polster und das Werkzeug in Felsspalten unmittelbar unter dem Grab verstaut hatte. Dann ging er auf das Licht zu, das langsam Gestalt annahm. Eingefaßt in einen ovalen Rahmen aus Fels, zeichnete die Helligkeit das Spiegelbild der Wellen auf die Wände. Das stetige, ruhelose Rauschen des Ozeans war zu hören. Noch eine Minute, und Cyrion trat durch das Oval aus Licht, -333- den Eingang einer Höhle, auf einen Felsvorsprung hinaus, der ungefähr zwei Meter breit war und wie ein Balkon an der Wand der Höhle entlanglief. Von dort konnte man fast alles überblicken. Es war ein beeindruckendes Bild, das an den Bauch des Walfischs gemahnte. Oben der gerippte Fels, schimmernd und auch ohne Farbe. Dazu die gewölbten Wände dieser gewaltigen Muschel, die von hundert oder mehr Höhleneingängen wie mit Pockennarben gezeichnet war und an manchen Stellen ein eigenartiges, metallisches Leuchten verströmte. Dann, vielleicht siebzig Meter weiter unten, der Boden der Höhle, eine schwarzgrüne spiegelnde Scheibe aus Wasser. Am westlichen Ende verengte sich die Höhle zu einem schmalen Durchlaß, der zweifellos auf das offene Meer hinausführte und von außen nur wie einer der vielen Risse und Spalten in den Klippen aussah. Aber nicht daher kam das Licht, das den eigenartigen Schimmer auf den Felsen verursachte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Licht rührte von einer ganzen Anzahl kleiner Feuer her, die in den senkrechten Spalten tiefer gelegener Höhlen brannten. Die Flammen verbreiteten nur wenig Helligkeit, aber da es in dem Gestein irgend etwas gab, auf dem sie sich widerspiegelten, war die unterirdische Halle mit einem milchigen, unwirklichen Glanz erfüllt. Ohne die Polster wieder so anmutig wie früher, wenn auch noch in den grellen Kleidern, die er zu dem verhängnisvollen Abendessen angelegt hatte, tastete Cyrion sich den glitschigen, abschüssigen Felsvorsprung entlang. Linker Hand und etwas weiter vorn hatte er etwas gesehen, das ihn beinahe ebenso interessierte wie die Feuer in den Höhleneingängen. Eine lange Schlinge aus dickem Tauwerk hing von oben auf den Felsvorsprung herab. Blickte man daran empor, entdeckte man einen merkwürdigen Metallkäfig unter der Höhlendecke. -334- Seitlich über dem Käfig war ein Loch in der Decke, die untere Öffnung eines runden Schachtes, in dem zwei dünne Seile herabhingen. Wo sie aus dem Loch herauskamen, waren sie straff zur Seite gezogen und mit eisernen Klammern an einem vorspringenden Felsen befestigt. Schaute man von oben in den Schacht hinein, mußte man den Eindruck gewinnen, daß die Seile im Nichts endeten oder ­ eine optische Täuschung ­ unter der Wasseroberfläche. Die käfigartige Vorrichtung, die seitlich unter dem sich verbreiternden Höhlendach hing, blieb unsichtbar. Das obere Ende des Schachtes war natürlich der Spukbrunnen in dem überdachten Gang. Cyrion betrachtete den Käfig und die Seile. Jemand, der diese Vorrichtung benutzen wollte, mußte einige akrobatische Kunststückchen vollbringen. Erst die Seile in dem Schacht hinabkle ttern und sich dann in den nicht eben vertrauenerweckenden Käfig schwingen. Ein einfacher Flaschenzug wies darauf hin, daß der Käfig mit Hilfe der Taue auf den Felsvorsprung hinabgelassen werden konnte. Auf dieselbe Art konnte sich der Benutzer des Käfig natürlich auch wieder nach oben ziehen. Hoch oben in dem Brunnenschacht ertönte ein kaum hörbares Geräusch. Nachdem er bereits herausgefunden hatte, wie die einfache, aber zweckmäßige Vorrichtung zu bedienen war, schien es, daß Cyrion nun auch noch in den Genuß einer praktischen Vorführung kommen sollte. Mit einem freundlichen Gedanken an ein zuvorkommendes Schicksal, trat er in eine der flachen Nischen in der Felswand und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Zuerst tauchten ein paar lange Beine in dem Schacht auf, gefolgt von dem restlichen Körper. Zwei schmale Hände umfaßten die straff gespannten Seile und hangelten sich mit bewunderungs würdigem Geschick daran hinab. Am Ende der Seile angekommen, schwangen die Füße vor, in den oberen Teil -335- des Käfigs hinein und zogen ihn unter die Schachtöffnung. Als der Käfig sich genau unter dem Loch in der Höhlendecke befand, ließ die Gestalt sich hineingleiten und suchte Halt an dem Gestänge, während der Gitterkasten hin und her schaukelte. Ein gewagtes Unterfangen, das aber mit der Gewandtheit eines Kletteräffchens durchgeführt wurde. Oder mit der Gewandtheit eines Menschen, der es gewöhnt war zu klettern und zu balancieren und den inneren Gesetzen einer sorglosen, aber genau berechneten Furchtlosigkeit gehorchte. Das Schaukeln des Käfigs beruhigte sich, und der Insasse wartete, bis es ganz aufgehört hatte, bevor er nach den Tauen griff, um sich in die Höhle hinabzulassen. Man hätte glauben können, es handelte sich um einen Knaben, Harmul oder Zimir, denn die Gestalt trug dementsprechende Kleidung. Aber schon bald sah man auf dem Kopf den kunstvoll hochgesteckten zartgelben Schimmer ­ eine Maßnahme, die ebenso wie die Männerkleidung der Bewegungsfreiheit bei dieser ungewöhnlichen Reise diente. Der Käfig landete knirschend auf dem Felsband. Das Mädchen trat heraus, und einen Augenblick lang war sie im Profil zu sehen. Damit war der letzte Zweifel an ihrem Geschlecht beseitigt. Cyrion beobachtete, wie das Mädchen den glitschigen, abschüssigen Felsbalkon entlangeilte. Nach einer Weile erreichte sie anscheinend einen in die Tiefe führenden Pfad, der von Cyrions Standpunkt aus nicht zu sehen war, und verschwand. Cyrion nahm die Verfolgung auf. Den unsichtbaren Pfad hatte er bald gefunden. Er wand sich an der Felswand hinunter und war stellenweise von herabgefa llenem Gestein blockiert. Das behinderte aber weder Cyrion noch das Mädchen. Er ging erst langsamer, als der golden schimmernde Kopf wieder vor ihm auftauchte. -336- Um auf den Gedanken zu kommen, daß sie zu den Höhlen mit den davor brennenden Feuern wollte, bedurfte es nicht Cyrions überragender Intelligenz. Es gab keine andere Möglichkeit ­ außer, sie verspürte den unwahrscheinlichen Wunsch, in dem trüben Wasser ein eisiges Bad zu nehmen. An den ersten sechs Höhlen ging sie vorbei. Sie waren dunkel. Aus dem Eingang der siebten strömte das unheilige Hexenlicht. Das Knistern der Flammen in der ohrenbetäubenden Stille hatte nichts Anheimelndes. (Der Uferrand war ungefähr vierzig Meter weit entfernt. Überhänge und Felsvorsprünge verbargen das Ausmaß der Einbuchtungen. Irgendwo, jetzt noch unsichtbar, mußte das geheimnisvolle Schiff liegen.) Das Mädchen war vor der Höhle stehengeblieben. In der unheildrohenden, bleichen Helligkeit war die stolze Haltung ihres Kopfes und des Körpers gut zu erkennen. Dann trat sie durch die Öffnung und war für Cyrion nicht mehr zu sehen. Aber gleich darauf hörte er sie sprechen, mit der wohlklingenden Stimme, die man, auch ohne die Sprecherin zu sehen, sogleich als die Eliset von Flors erkannte. »Sei gegrüßt, Oe-Tabbit.« Eine alte Stimme, so brüchig wie trockene Brotkrusten, antwortete: »Sei gegrüßt. Warum bist du gekommen?« »Um dich an me iner Freude teilhaben zu lassen, dich und unsere Schwesternschaft.« »Einer ist also tot.« »Ja, Oe-Tabbit, einer ist tot.« »Aber du gedenkst des Versprechens, das du der grünen Mutter gegeben hast, der Herrin des Meeres?« »Natürlich, Oe-Tabbit. Er wird nur deshalb mir gehören, weil er Ihr Eigentum ist. Mein Geschenk an Sie.« -337- Ein langes Schweigen. Dann ertönte wieder die Stimme der Hexe, der Frau, die Elisets Kindermädchen gewesen war und auch das der verschwundenen Valia. Schon damals war sie alt gewesen und ein Mitglied dieser zauberkundigen Schwesternschaft, die es vielleicht schon ebenso lange gab wie die Klippen und der Flor seine Geschichten über Meerjungfrauen und Za uberinnen verdankte, die aus dem Wasser stiegen um zu stehlen und zu töten. »Bedenke auc h, Tochter, daß du deine Pläne nur ausführen kannst, weil Sie es erlaubt hat. Du gehörst Ihr. Nicht du bestimmst über dein Leben, sondern Sie allein.« In der Höhle lachte eine Frauenstimme kurz und hart. »Das weiß ich seit dreizehn Jahren. Und habe ich Ihr nicht schon Opfer dargebracht?« »Das hast du getan. Sie hat es nicht vergessen. Nur sei vorsichtig. Es liegt ein Schleier über dem, was du vorhast, ein Nebel. Es gibt etwas, das ich nicht fassen und nicht erkennen kann. Vielleicht der Einfluß einer Person, von der wir nichts wissen. Sind dir die Diener ergeben?« »Ergeben oder tot.« »Also ist es ein Fremder.« »Oder ein Geist. Manchmal nimmt mein Onkel Mevary Gestalt an. Ich habe mich vor ihm geschützt, wie du geraten hast. Ich glaube, was ihn umtreibt, ist der Wunsch, mir ein Leid zuzufügen.« »Es ist kein Geist. Die Muscheln im Feuer zeigen mir einen Mann mit weißem Haar.« »So weiß wie das deinige, Oe-Tabbit? Ich furchte ihn nicht. Soll er nach Flor kommen und mit meinen anderen Feinden untergehen.«. »Sachte«, mahnte die unheimliche, brüchige Stimme der alten Hexe in ihrem Nest aus Stein und Feuer und Meer. »Du bist zu -338- jung, um so mit dem Tod zu spielen.« »Jung«, bestätigte die junge Stimme. »Aber habe ich etwas von spielen gesagt?« Tabbit gab ein Krächzen vo n sich. Sie sagte: »Bald wird es dämmern.« Dann sank ihre Stimme zu einem Flüstern herab: »Geh und sieh nach, ob dir jemand gefolgt ist.« Als Gerris' Tochter, stolz und grausam und voller Zweifel, auf den Weg hinaustrat, war niemand zu sehen. Kurze Zeit später wurde der Käfig wieder in die Höhe gezogen und eine weibliche Gestalt in Männerkleidung turnte den Brunnenschacht hinauf. Die Sonne ging ebenfalls auf. Danach weinte Jhanna in ihrer Kammer; Zimir entdeckte die Gäste; Roilant in eigener Person platzte in die verstörte Familie; Mevary erbleichte; Eliset führte die Besucher zum Grab ihres Vaters. Das Grab wurde geöffnet, und man stand vor einer unerklärlichen Leere. Während einige Meter unter ihren Füßen Cyrion in einer Höhle saß, sich an dem wenigen labte, was er bei sich getragen hatte und das Hin und Her der greisen Hexe beobachtete. Im Anschluß an die Entdeckung der leeren Grabstätte hatte sich eine einigermaßen amüsante Szene abgespielt. In einem der im Erdgeschoß gelegenen Räume, der einzig mit zwei hölzernen Kerzenständern und einem leeren Vogelkäfig möbliert war, kam es zu einer lebhaften Unterhaltung zwischen Roilant und Mevary. Draußen im Hof lehnten zwei der Leibwächter von Beucelair an einem Brunnen. »Ich kann nur wiederholen«, wiederholte Mevary, »wo ist dein Beweis?« »Daß mein Beauftragter nicht da ist, ist Beweis genug!« »Tatsächlich? Wie, wenn der Kerl sich einfach davongemacht hat? So was soll vorkommen.« -339- Roilant lief rot an, und seine Hände zitterten. Er schwankte zwischen Wut, Verwirrung und Schuld. Und die Anwesenheit Elisets trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Sie des Mordes und der Niedertracht anzuklagen, bereitete ihm mehr als nur geringes Unbehagen, während er danach brannte, Mevary zu überführen, ganz gleich, wie. Was Mevary betraf, so war er nervös, freudig erregt und unruhig. Das unheimliche Verschwinden hatte ihn einerseits gerettet, warf aber andererseits ungeahnte Probleme auf. Wenn dieser verfluchte Doppelgänger Roilants tatsächlich lebte und entkommen war, dann wie, und wo befand er sich jetzt, und was hatte er vor? Es war Mevary unmöglich, Roilants Fragen und Beschuldigungen die erforderliche Aufmerksamkeit entgege nzubringen, weil sein ganzes Denken damit ausgefüllt war, zu enträtseln, wie jemand, der eindeutig tot gewesen war, doch noch lebendig sein konnte. Es gab noch eine andere Möglichkeit. Daß Cyrion doch tot gewesen war und daß jemand anders, der eigentlich nicht ins Bild gehörte, den Leichnam gestohlen hatte. Aber um das herauszufinden brauchte er die Nacht und die Abwesenheit dieses nervtötenden rothaarigen Cousins. Weil ihm nichts Besseres einfiel, verkündete Roilant: »Deine verdammten Lügen, werden dich an den Galgen bringen.« Woraufhin Mevary, weil ihm nichts Besseres einfiel, einen Vorschlag dahingehend hatte, was Roilant mit dem Galgen anfangen könne. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich Eliset zu Wort. »Roilant, es ist vollkommen klar, daß ich zusammen mit Mevary unter Verdacht stehe. Aber ich frage mich, ob du in deiner Barmherzigkeit mir erlauben würdest, in mein Zimmer zu gehen? Du hast mein Wort, daß ich nicht fliehen werde. Wohin sollte ich auch gehen? Deine Wachen haben alle Ausgänge besetzt. Und auch wenn ich ihnen entkommen könnte, habe ich -340- doch nicht genug Geld, um irgendwo Unterkunft zu finden. Wenn du willst, kannst du natürlich auch einen Wächter vor meine Tür stellen. Ich bin, das kannst du mir glauben, dieser ganzen Sache überdrüssig.« Roilant sah sie an. Erschöpfung hatte an ihrer Schönheit gezehrt, und es war beinahe unmöglich, kein Mitleid mit ihr zu empfinden. Das konnte kaum gespielt sein. Sie sah aus, als hätte sie, ganz abgesehen von den Aufregungen dieses Tages, in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. »Natürlich«, sagte er. »Ein Wächter vor deiner Tür wird nicht notwendig sein. Ich bedaure, daß dies ­ ich bedaure -« »Bedauern ist überflüssig«, unterbrach sie ihn. Und fügte dann mit einer schlichten Würde, die ihm das Herz abdrückte, hinzu: »Du bist sehr gütig.« Sie verließ das Zimmer, und Roilant folgte ihr, um den Wachen am Brunnen zu sagen, daß sie sie nicht belästigen sollten. Das Sonnenlicht flimmerte auf ihrem Haar, als sie den Fuß der Treppe erreichte und dort einen Moment stehenblieb, weil sie bemerkte, daß der Orangenbaum in dem Kübel eingegangen war. Dann schritt sie mit der ihr eigenen Anmut die Stufen hinauf, und er sah eine abgelaufene Stelle in ihrer Schuhsohle. Selten nur war eine potentielle Mörderin so von ihrem Opfer bemitleidet worden. In ihrem Zimmer angekommen, verriegelte Eliset die Tür. Sie fühlte sich völlig ausgebrannt und legte sich auf ihr Bett. Der Tod des Orangenbaumes war der letzte Tropfen in einem bereits vollen Becher gewesen. Sie rechnete kaum noch damit, schlafen zu können, da die Ereignisse sie zu sehr aufgewühlt hatten, und lauschte zuerst nur den gewohnten und ungewohnten Geräuschen im Hof und außerhalb des Hauses ­ dem Meer, den Vögeln, dem Klappern eines Kruges, der am Küchenbrunnen gefüllt wurde ­ und dem gelangweilten Lachen eines der Wächter, die überall -341- herumstanden, dem Schnauben ihrer Pferde (es weckte Erinnerungen an vergangene Zeiten), und ein- oder zweimal drang etwas von dem immer noch andauernden Streit zwischen Roilant und Mevary zu ihr herauf. Und dann betäubte doch der Schlaf ihre Sinne, und alles rückte weit in die Ferne. Es gab nichts, was sie hä tte tun können, und also ließ sie den Dingen ihren Lauf und ergab sich dem Vergessen. Als sie erwachte, war es Nacht geworden. Die Sterne funkelten am Himmel, und der Mond ging auf ­ es mußte, überlegte sie, eine Stunde nach Sonnenuntergang sein. Die Droge Schlaf war zu verlockend gewesen. Mit dem unruhigen Gefühl, daß sie etwas Entscheidendes verpaßt hatte, stieg sie aus dem Bett, entzündete die Kerzen und ging zur Tür. Ihre Hand lag schon auf dem Riegel, als sie innehielt. Das Durcheinander von Geräuschen war verstummt. Das Haus war beunruhigend still, als wartete es auf sie. Ohne jede Vorwarnung klopfte es plötzlich leise an der Tür, und sie konnte kaum einen Schrei unterdrücken. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie fragen konnte: »Wer ist da?« »Roilant«, kam die geflüsterte Antwort. Verblüfft richtete sie sich auf, die Hand immer noch auf dem Riegel, aber ohne ihn zu heben. Wenn es Roilant war, ihr Eroberer, warum flüsterte er dann? Sie hatte plötzlich den albernen Gedanken, daß er heimlich gekommen war, um ihr zur Flucht vor ihm zu verhelfen. In einem Anfall eigentlich grundloser Belustigung kam sie zu dem Schluß, daß sie darüber hinaus war, sich um irgend etwas Sorgen zu machen, und hob den Riegel. Die Tür öffnete sich, der weiche Kerzenschimmer strömte hinaus und hob die Gestalt des Besuchers aus der Dunkelheit. Mit weit geöffneten Augen trat Eliset unwillkürlich drei -342- Schritte zurück. »Wer seid Ihr?« soufflierte der Besucher zuvorkommend, während er ins Zimmer trat und die Tür hinter sich schloß. »Wer seid Ihr?« wiederholte Eliset gehorsam. »Wie Roilant es vielleicht durchaus zutreffend erklärt haben mag, war die Person, die sich unter seinem Namen hier Zutritt verschaffte, ein Betrüger. Des Mannes wirklicher Name ist Cyrion. Ich bin Cyrion. Guten Abend.« »Aber«, sagte sie. »Aber. Ihr müßt bedenken, daß ich, abgesehen von den bejammernswerten Haaren, nicht mehr verkleidet bin.« Er lehnte lässig an der geschlossenen Tür, und die Kerzen vergoldeten ihn und die jetzt zu groß wirkenden Kleider, an die sie sich aus ihrer Hochzeitsnacht erinnerte. Sonst hatte er kaum noch etwas mit ihrer Erinnerung gemein. Ein junger Mann, hochgewachsen und schlank, mit der Ausstrahlung von Luchs und Panther, einem Gesicht wie dem Luzifers in seinen charmantesten Augenblicken, langgewimperte Augen von dem Blau neu geschmiedeter Schwerter ­ und das alles gekrönt von der Flamme orangefarbener Haare. Dieses Geschöpf also hatte sie genarrt, geärgert, in Schrecken versetzt. Er war es, der sie auf den Klippen gerettet hatte ­ der vor ihren Augen in diesem Raum gestorben war. »Falls Ihr in Erwägung ziehen solltet, ohnmächtig zu werden«, sagte Cyrion, »muß ich Euch darauf hinweisen, daß ich vielleicht nicht so schnell da bin, Euch aufzufangen, wie Mevary.« Kalt erwiderte sie: »Ich bin no ch nie in meinem Leben ohnmächtig geworden.« »Das glaube ich natürlich sofort.« »Ihr denkt an den Tag, als Jobel starb? Ich war müde und traurig, und es war manchmal nützlich, so zu tun... In -343- Ohnmacht zu fallen ist eine ausgezeichnete Methode, ermüdenden Fragen auszuweichen. Nicht daß meine schauspielerische Le istung auch nur im mindesten an Eure heranreicht. Ihr fallt nicht in Ohnmacht, Ihr sterbt.« »Womit man gleichfalls Fragen aus dem Weg gehen kann.« »Vielleicht seid Ihr ein Magier.« »Oder vielleicht bin ich kein Magier.« »Hat Roilant Euch zu mir geschickt?« »Nein.« »Wie seid Ihr dann hier hergekommen, ohne aufgehalten zu werden? Überall stehen Wachen.« »Jemand anders hat dafür gesorgt, daß sie tief und fest schlafen.« Sie stutzte und bemerkte dann mit unüberhörbarer Abneigung: »Und wie seid Ihr aus dem Grab entkommen, in das wir Euch gelegt hatten?« »Dessen Deckplatte, wie ich gesehen habe, immer noch danebenliegt.« Cyrion trat ins Zimmer. Er nahm etwas aus seinem Hemd und ließ Wachs von einer der Kerzen darauf tropfen. »Die Antwort darauf, wie auf eine ganze Reihe anderer drängender Fragen, muß ich Euch schuldig bleiben. Die Zeit, wie man so zu sagen pflegt, ist kurz. Aber vielleicht würdet Ihr so gut sein, das hier Eurem Cousin Roilant zu übergeben.« Sie starrte ihn an und dann den Brief, den er sorgfältig, wenn auch ziemlich sinnlos, mit heißem Kerzenwachs versiegelt hatte und ihr jetzt entgegenhielt. »Was hat das zu bedeuten?« »Die Sicherung Eures guten Namens«, erklärte er. »Wenn Roilant aufwacht, gebt es ihm. Er wird schlechter Laune sein, da man ihm ein Schlafmittel eingeflößt hat. Sprecht also leise. Das ist für morgen. Heute nacht behaltet es hier.« »Wieder ein Scherz.« -344- »Nicht ganz. Es besteht die Möglichkeit, daß ich aufgehalten werde oder eine falsche Spur verfolge. Es wäre eine Schande, wenn Eure Unschuld länger als nötig bezweifelt würde, oder nicht?« »Unschuld? Ihr haltet mich für eine Verbrecherin. Alles, was Ihr zu mir gesagt habt -« »Vergebt mir. Ich habe nicht viel Zeit.« Er gab seinen Platz neben dem Kerzenhalter auf, ging wieder an ihr vorbei, neigte seinen schimmernden Kopf und küßte sie leicht auf den Mund, bevor er die Tür öffnete und in der Dunkelheit verschwand. Erst als er fort war, bemerkte sie, daß der Brief in ihrer Hand lag und daß sie ihn entgegengenommen hatte, zugleich mit den geheimnisvollen Worten und dem gehauchten Kuß, der immer noch auf ihrer Haut brannte. Einer ersten Regung folgend, eilte sie zur Tür, um dann unschlüssig stehenzubleiben. Sie blickte auf den versiegelten Brief in ihrer Hand. Das Siegel zu erbrechen und nachher wieder anzubringen würde nur zu einfach sein, denn das passende Wachs stand ihr ja zur Verfügung. Und sollte sie annehmen, daß er genau das nicht beachtet hatte? Verwirrt legte sie den Riegel wieder vor und ging zu ihrem Bett zurück. Und fuhr mit dem Daumennagel unter das provisorische Siegel. Nachdem er geraume Zeit in der unterirdischen Höhle verbracht und gesehen hatte, was es zu sehen gab, kehrte Cyrion an die Oberfläche zurück. Der Käfig, der nur von der darin befindlichen Person bedient werden konnte, hing wieder seitlich unter dem Brunnenschacht, wo die Verbündete der Hexen ihn zurückgelassen hatte, während sie in dem Schacht nach oben kletterte. Gezwungenermaßen benutzte Cyrion das schlaff herabhängende Seil, das den einen Teil der Zugvorrichtung ausmachte und holte den Käfig zu sich, indem er sich als -345- Gegengewicht an den Flaschenzug hängte. Das und das Überwechseln zu den Seilen in dem Brunne nschacht, bewältigte er mit mindestens ebensoviel Geschick wie jeder andere, der diese Vorrichtung vor ihm benutzt hatte. Um die Wahrheit zu sagen, sogar mit größerem Geschick. Was er anschließend vorhatte, war eigentlich ganz einfach, nämlich Roilant aufzusuchen und ihm mitzuteilen, was er herausgefunden hatte. Roilant war tatsächlich anwesend, befand sich aber in einem Zustand, in dem jedes Wort an ihn verschwendet gewesen wäre. Außerdem gab es noch einige andere Überraschungen. Erstens zwei Angehörige der Leibwache des Hauses Beucelair, die neben und halb in einem der Brunnen lagen; zweitens eine kleine Weinflasche neben ihnen auf dem Boden. Als Cyrion daran roch, wußte er Bescheid. Sie waren betäubt worden, wie drei andere, die er fand, und wie Roilant, den Cyrion entdeckte, als er das Schnarchen in einem der an der Veranda gelegenen Zimmer hörte und den Lichtschimmer unter der Tür bemerkte. Die Papiere, die auf einem wackeligen Tischchen verstreut lagen, halfen bei der Lösung des Rätsels. Anscheinend war Roilant gerade im Begriff gewesen, einen Bericht für den Statthalter in Cassireia zu schreiben, als der Inhalt seines Weinbechers ihn in den Schlaf schickte. Wie aus dem Schreiben zu ersehen war, hatte er bereits zwei seiner Leibwächter ausgesandt, um eine Abordnung der städtischen Gerichte nach Flor zu hole n. Auch mit nur mangelhaften mathematischen Kenntnissen war leicht auszurechnen, daß von den zehn Wächtern, die in den Papieren erwähnt waren, noch zwei fehlten. Cyrion fand sie im äußeren Hof. Der eine von ihnen hatte den mit einem Schlafmittel gemischten Wein getrunken. Der andere, es war der Söldner, hatte anscheinend den Braten gerochen und sich als Belohnung für seinen Scharfsinn einen deftigen Schlag ins Genick eingehandelt. Er atmete, war aber -346- besinnungslos und konnte daher weder mit tatkräftiger Hilfe noch mit irgendwelchen Informationen dienen. Ein Versuch, ihn zu wecken, hatte lediglich die Worte zur Folge: »Nicht jetzt, Aishab, um Gottes willen.« Aus Roilants schriftstellerischen Übungen konnte Cyrion aber zumindest ersehen, daß Roilant nach einem Nachmittag fruchtlosen Streits mit Mevary beschlossen hatte, auf Flor Wurzeln zu schlagen, bis offiziell Verstärkung aus der Stadt eintraf. Inzw ischen hatte er Mevary erlaubt, sich in sein Zimmer zurückzuziehen, wie vorher auch schon Eliset. Und als Mevary frech nach seinem Abendessen verlangte, hatte man erlaubt, daß es ihm gebracht wurde. Ein verängstigter Diener oder Sklave, dessen Name sich für Roilant wie>ZunirOeJhannaOe<, hatten längst jede eigene Bedeutung verloren. Nur das Wesentliche blieb, und das, wenn man darum wußte, war erschreckend genug. Valia, die die Worte sprach und ihren Sinn kannte, war in eine ruhige, religiöse Entrücktheit verfallen. Ihre Stimmung hätte sich beträchtlich verändert, hätte sie gewußt, daß irgendwo, hoch über ihr, ihre blonde Cousine bei dem Licht von zwei Kerzen eine Botschaft las, nicht glauben konnte und wieder las. Das knirschende und leckende Schiff hatte die Mitte der Grotte erreicht. Es begann ziellos zu treiben, aber die Ruder und die Arme der alten Weiber hielten es ungefähr an diesem Punkt. Zwei der Schwestern hatten allerdings ihren Platz verlassen und schöpften das eingedrungene Wasser aus. Die Höhlenwände wölbten sich über ihnen wie eine Kuppel und verbreiteten ihr mattes, auf einzelne Stellen begrenztes, ewig gleiches Licht. Tabbit hob ihren mit Gold und Perlen gedeckten Kopf. »Also«, sagte Mevary scharf. »Zur Sache, Großmutter.« »Schhh«, erwiderte Tabbit, beinahe zärtlich. »Bald wirst du bekommen, was die Göttin dir zugedacht hat. Bald. Du darfst die Anrufung nicht unterbrechen. Die Worte müssen gesprochen werden. Die Hörner geblasen. Die Lieder gesungen.« Mevary bewegte sich mit verächtlicher Geschmeidigkeit über das schwankende Deck. Die rudernden Hexen schauten zu ihm auf, als er vorbeiging. Valias Stimme murmelte weiter und weiter. »Wie wollt ihr es anfangen?« erkundigte sich Mevary bei Tabbit, hinter der er jetzt stand, spottend und schwitzend. »Du -373- hast mir von einer Höhle unterhalb der Wasserlinie erzählt. Benutzt ihr einen Magnet? Oder eine Angelrute? Oder wollt ihr den Schatz mit einem Zauberspruch heben?« »Schhh. Du wirst es sehen.« »Nichts da mit Schhh.« Er hob sein Schwert und rieb damit über ihren knochigen Arm. »Ich bin hier der Herr. Vergiß es nicht.« »Nein. Sie ist die Herrin. Die Göttin ­ Gottkönigin -, die wir verehren und der wir gehorchen.« »Verflucht sei -« Mevary verstummte abrupt. Eine der schöpfenden Hexen hatte ihre Arbeit im Stich gelassen, war hinter ihn getreten und griff plötzlich nach seinem Arm. Der Griff war überraschend kräftig für ein so altes und dürres Geschöpf. »Es ist alles wirklich sehr unterhaltsam«, bemerkte eine junge Stimme, die nicht nur melodisch, sondern überdies eindeutig männlich klang. »Wie auch immer, jeder Spaß muß ein Ende haben.« Mevarys Schwertarm sank herab. Er wirbelte herum, und niemand hinderte ihn daran. Tabbit drehte sich gleichfalls um und auch Valia, deren letzte Worte verklangen, ohne von anderen gefolgt zu werden. Die vormals wasserschöpfende Hexe ließ zuvorkommenderweise ihr graues Gewand fallen. Zum Vorschein kam eine strahlende Gestalt, unter einem flammendorangefarbenen Haarschopf. Es war nicht das erste Mal, daß Cyrion die Kleider von Toten genommen hatte, um sich zu verkleiden, allerdings hatte er sie nicht immer abgenagten Knochen in unterirdischen Gängen ausgezogen. Mevary, der in mancher Hinsicht ein Dummkopf war, verfügte doch über die schnelle Auffassungsgabe derer, die langer Gedankengänge nicht fähig sind. -374- »Roilants Beauftragter«, rief er. »Roilants Beauftragter«, gab Cyrion ihm recht. »Und Ihr seid natürlich Mevary. Und Ihr«, mit einer Verbeugung in Tabbits Richtung, »die zauberkundige Kinderfrau Tabbit.« Die kühlen Augen richteten sich auf das Sklavenmädchen Jhanna. »Und Ihr müßt die Lady Valia sein. Ich bin so froh, Euch wohlauf zu sehen.« Valia hielt den Atem an. Ohne den Blick von ihm zu wenden, sagte sie: »Er muß gleichfalls sterben, Oe-Tabbit.« Tabbits Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Ton heraus. So klar und deutlich hatte ihr Ziel vor ihr gelegen, und jetzt das. Die klare Ordnung ihres Willens wurde von diesem Durcheinander in Aufruhr gebracht. »Wußtet Ihr, daß man Euch hier hergebracht hat, um zu sterben, Mevary?« fragte Cyrion. »Nein? Aber es ist so. Ein Imbiß für die Göttin, die auf ihren wäßrigen Lippen zu gerne das Blut junger Männer spürt. Aber Ihr wart in dem Glauben, sie würden für Euch den Goldschatz der Remusaner heraufholen. Nichts anderes hätte Euch dazu bringen können, an so etwas teilzunehmen.« Cyrion lächelte Valia an, dann Tabbit, wieder Valia. »Kann ich es ihm noch erklären? Gewährt die Göttin mir so viel Zeit?« Niemand sprach. Die Schwestern an den Rudern verrenkten sich die Hälse, waren aber gleich ihrer Anführerin im Dschungel des Unvorhergesehenen gefangen. »Meiner Ansicht nach hat es sich folgendermaßen abgespielt«, erklärte Cyrion, wobei seine Blicke zwischen Mevary, Tabbit und Valia hin und her wanderten, »vor Hunderten von Jahren entfernte sich ein Trupp Soldaten von ihrer Einheit, nachdem sie diese um eine bestimmte Menge Goldes erleichtert hatten. Dann stahlen sie ein kleines Schiff und takelten es, da sie kein Segeltuch hatten, mit ihren aneinandergenähten Umhängen. Es ist nicht mehr viel davon übrig, aber das ist das Rot der remusanischen Legionen, wenn -375- auch stark verblaßt und fleckig vor Ruß. Entweder kannten die Männer diese Grotte oder entdeckten sie durch Zufall und beschlossen, ihre Beute hier zu verstecken, bis Gras über die Sache gewachsen war. Aber dabei wurden sie von den damaligen Mitgliedern dieser eifrigen Schwesternschaft überrascht und getötet. Das muß ein vergnü glicher Abend gewesen sein, Tabbit, nicht wahr? Vielleicht ist Euch aufgefallen«, sagte Cyrion im Gesprächston zu Meva ry, »daß die Höhlenwände hier und da ein eigenartiges Leuchten verströmen. Es rührt zu einem Teil von den Pilzkulturen her, die diese reizenden Damen angelegt haben, um ihre wenig angenehmen Mittelchen und Gifte zu brauen. Aber es hat noch eine andere Ursache. An manchen Stellen sind Menschenknochen an den Wänden befestigt, eine beachtliche Menge, und daher rührt der aparte Schimmer. Das Gold der toten Legionäre«, fuhr Cyrion fort, »wurde als zusätzliche Weihegabe in diesem See versenkt. Es dürfte unmöglich sein, es wieder herauszuholen. Gelegentlich wird mal ein Stück angeschwemmt, durch eine Laune der Wasserströmung. Was das Schiff betrifft, so eignet es sich ausgezeichnet für die Rituale. Es trägt die Diener der Göttin fröhlich auf ihren Busen hinaus. Also haben die Damen das Schiff behalten.« Mevary grinste. »Das ergibt durchaus einen Sinn«, sagte er. »Alles ein Trick, he?« Auch er blickte von Tabbit zu Valia, und sein Lächeln erinnerte an einen Wolf. »Und du hast mich angebetet, Cousinchen? Ich hatte gle ich so eine Ahnung, daß ich bei dir auf der Hut sein sollte. Aber ich hätte nie geglaubt, daß wir einen so bösen Streit bekommen würden. Aber schließlich bist du verrückt, oder etwa nicht, mein Liebling?« Ohne Cyrion anzusehen, fügte Mevary hinzu: »Und du, Stellvertreter des geliebten Puddings. Wenn du das herausgefunden hast, weißt du doch bestimmt auch alles andere? Obwohl ich dich begraben ließ, war ich an deinem Tod so unschuldig wie ein Engel.« -376- »Ich weiß, daß Ihr keinen Mord begangen habt«, sagte Cyrion. »Dann kannst du mir wieder zu einem guten Platz in Puddings Adreßbuch verhelfen, und wir -« Mevary brach ab. Valia, die sie beide beobachteten, hatte ihre Haltung verändert. Sie hatte eine Steinschüssel und ein Feuersteinmesser vom Altar genommen. In jeder Hand einen dieser Gegenstände, näherte sie sich mit langsamen, gleitenden Schritten ihrem Cousin. Mevary lachte. Es war ein Lachen aufrichtiger Geringschätzung. Gleichzeitig verkürzte er seinen Griff an dem Schwert. Er war für sie bereit. »Und du«, meinte er, »glaubst du wirklich, du kannst gegen mich etwas ausrichten? Ich werde dir eine Tracht Prügel verabreichen, Liebste. Mit Stahl, wenn du Wert darauf legst. Noch einen Schritt und dir springt der Kopf von den Schultern. Glaub mir, mein Häschen. Ich kann es tun. Ich werde es tun.« Valia blieb stehen. Sie starrte ihn an. In dem Schatten ihrer Kapuze leuchteten ihre hellen Augen beinahe weiß. Sie waren voller Lust. Er, der Jüngling, den sie aus ihren Verstecken beobachtet hatte, der Gegenstand ihrer pubertären Träume, die erste und letzte Regung fleischlicher Begierde, die sie ausmerzen mußte. Valia ließ sich nicht gerne beherrschen. Tabbit beherrschte sie nicht. Die Göttin nicht. Mevary, der für die geschlechtliche Lust stand, der sie abgeschworen hatte, hatte sie nie beherrscht und würde es auch nie. Hätte sie die Hand mit dem Messer bewegt, hätte er sie augenblicklich mit dem Schwert angegriffen. Aber sie bewegte die andere Hand, in der sie die Steinschale hielt. Sie schleuderte den schweren Gegenstand in seine Richtung, und eine schwarze Flüssigkeit flog in seine Augen. Es war die Tinte, die eigentlich dazu bestimmt gewesen war, ihn für das Ritual vorzubereiten, und sie blendete ihn. -377- Instinkt ist nicht in jedem Fall ein Verbündeter. In diesem Fall veranlaßte der Instinkt Mevary dazu, die Hände zu heben, um seine Augen zu schützen. Sein Schwert kam aus der Richtung. Und Valia, die sich darunter hinwegduckte, stieß das Feuersteinmesser bis zu einem Drittel in seine Brust. Dann ließ sie die Schale fallen und rammte ihm die Klinge bis zum Griff zwischen die Rippen. Nach der Ordnung durchgeführt, hätte das Opfer wohl anders ausgesehen. Aber das Herz zu treffen war einfach. Kaum jemand wußte nicht, wo es lag. Mevary, der stolze Aristokrat, der brutale Liebhaber, der Parasit, Fechter, Schläger, Spieler und Modegeck, fiel auf den Rücken. Zwischen dem Bug und den Reihen der rudernden Hexen war gerade so viel Platz, daß er sich ausstrecken konnte, während ihre aufmerksamen grauen Gesichter sich über ihn beugten. Auch Valia blickte aufmerksam erst auf den Mann, den sie getötet hatte, dann auf den anderen, der gleich hinter ihm stand. Cyrion hatte sich nicht bewegt. Das war aufschlußreich, für jeden, der ihn kannte. Seine unglaubliche Schnelligkeit, sein Reaktionsvermögen, gehörten zu der Legende, die sich um ihn gebildet hatte. Und dennoch war er nicht schnell genug gewesen, um Mevary von Beucelair vor einem Schicksal zu retten, das er ohne große Mühe hatte voraussehen können. Valias Gesicht war von wissender Ausdruckslosigkeit. Und Cyrion beglückte sie mit dem strahlendsten aller nichtssagenden Lächeln. Dann, schnell wie ein Blitz, sprang Valia an die Reling und darüber hinweg, tauchte in die im Fackelschein golden schimmernde Wasseroberfläche und in die dunklen Tiefen darunter. Die Hexen an den Rudern schrieen auf, es war ein dünnes, klagendes Geräusch. Verwirrung machte sich breit. Cyrion hatte keinen Blick für sie und nur einen ganz kurzen -378- für den Teich, in den das Mädchen sich geworfen hatte. Daß sie darin schwimmen gelernt hatte, bezweifelte er nicht; es war eine Herausforderung, der sie bestimmt nicht ausgewichen war. Nach diesem kurzen Blick trat er einen Schritt beiseite und entging damit dem zweiten Messer, das Tabbit nach ihm warf. Es rutschte hinter ihm über die Holzplanken, und sie zog die Lippen von dem dahinterliegenden Abgrund und fauchte ihn an. »Das Ritual ist entweiht«, zischte sie. »Aber du bist noch da. Du, den ich im Feuer sah, weißhaarig, mit weißerem Haar als ich.« »Mein Haar«, vertraute Cyrion ihr an, »hatte einst die Farbe von Butterblumen. Furchtbare Schicksalsschläge färbten es weiß, als ich ein Knabe von siebzehn Jahren war. Eine Tatsache, die nicht allgemein bekannt ist. Ich hoffe auf Eure Diskretion.« Tabbit warf die Arme in die Luft. Es waren grausame Arme, mit grausamen Händen; ihre ganze Haltung drückte Erbarmungslosigkeit aus. »Laßt die Ruder, meine Schwestern«, rief Tabbit. »Und ergreift ihn.« Es zappelte und raschelte, als die Armee alter Frauen von ihren Bänken aufsprang und nach ihm griff, mit Armen und Händen, die so grausam und blutdurstig waren wie die Tabbits. »Er«, sagte sie, »soll unsere Göttin mit seinem langsamen und blutigen Sterben erfreuen.« »Zu meinem größten Bedauern muß ich ablehnen«, meinte Cyrion. In einer Sekunde stand er zwischen der Priesterin und ihrem Gefolge, in der nächsten schon an der Reling. Im Sprung riß er eine der Fackeln aus der Halterung und ließ sie in den Ölkrug fallen. Mit makelloser Perfektion, die niemand zu würdigen wußte, zerteilte er das Wasser und zwei Atemzüge später explodierte -379- der Krug. Valias dunkler Kopf mußte seit langem wieder aufgetaucht sein. Cyrion, der aus der düsteren Tiefe aufstieg, machte sich nicht die Mühe, danach Ausschau zu halten. Obwohl die Beleuchtung inzwischen sehr viel besser geworden war. Auch kümmerte er sich nicht darum, was hinter ihm vor sich ging. Dadurch entgingen ihm die Schreie, der Qualm, die Feuersbrunst, der Zusammenbruch des faulenden, zu blutigen Zwecken mißbrauchten Schiffes unter dem Schleier seines brennenden Segels. Noch genoß er den Anblick der Schwesternschaft, die wie ein Bündel heulender Stöcke ins Wasser stürzte. Höchstwahrscheinlich konnten die meisten von ihnen schwimmen. Manche auch nicht. Alle waren sie alt, alle versengt. Wenn sie auch in ihrer verrückten Frömmigkeit die Ruder eines Schiffes handhaben konnten, waren sie doch denkbar schlecht für einen unerwarteten Sprung in eiskaltes Wasser ausgerüstet. Und noch weniger imstande, ihre gebrechlichen Leiber, die sich so lange nicht mehr an dem Anblick dunkelroten Männerblutes genährt hatten, zu einem der glitschigen, felsigen, abweisenden Uferstreifen zu quälen. Einige starben sofort. Andere, mit der zusätzlichen Last ihrer kreischenden, des Schwimmens unkundigen Schwestern beladen, kämpften sich durch die Fluten und gingen unter. Trotzdem konnte man annehmen, daß einige das Ufer erreichten. Cyrion hielt sich nicht damit auf, als er selbst festen Boden unter den Füllen hatte. Der Glanz des sterbenden Schiffes war schon beinahe erloschen, als er durch einen der Gänge zwischen den einzelnen Höhlen lief. Als er auf dem Felsvorsprung weiter oben herauskam, schwammen nur noch einige brennende Ölflecken auf der Wasseroberfläche. Allerdings hatte es genug Lärm gegeben, daß ihm ein bestimmtes Geräusch entgangen war. Erst als er den Balkon über den Höhlen erreichte, entdeckte er den herabgestürzten -380- Käfig inmitten eines Gewirrs abgeschnittener Taue. Valia hatte ihr Bestes getan, um eine Verfolgung unmöglich zu machen. Cyrion hielt sich bei dem Wrack nicht auf. Er sprang darüber hinweg und lief auf dem Felsband entlang. In der Dunkelheit des überdachten Ganges blieb Valia stehen, lehnte sich gegen den Brunnen, um Atem zu schöpfen, und lachte boshaft. Trotz der Einmischung des Fremden hatte sie ihr Ziel erreicht. Was mit dem Schiff geschehen war, wußte sie nicht genau, obwohl sie einmal zurückgeblickt und das Feuer gesehen hatte. Offensichtlich hatte es einen Kampf gegeben. Und Tabbit ­ was war aus Tabbit geworden? Bei dem Gedanken, daß Tabbit vielleicht verbrannt war, spürte Valia eine schreckliche Erleichterung, als wäre ihr ein Bleigewicht von der Seele gefallen. Und gleichzeitig mit der Erleichterung kam das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes. Und gleichzeitig mit dem Verlust ein unerlaubtes Entzücken. Und gleichzeitig mit dem Entzücken... Valia schüttelte sich und rief sich selbst zur Ordnung. Obwohl sie dafür gesorgt hatte, daß der schlaue Fremdling für immer dort unten gefangen war, mußte sie jetzt an die Zukunft denken. Roilants Tod mußte noch vollbracht werden, bevor die Nacht vorüber war. Und dann ihr eigener Weggang, eingehüllt nur in ihre Lumpen und ihre Macht. Was sie Mevary getan hatte, würde sie in ruhiger Abgeschlossenheit genießen, wie es ihre Gewohnheit war. Und dann würde sie auch die Tränen der dem Wahnsinn verwandten Freude vergießen, wie sie es vorher schon getan hatte. Es tat ihr nur leid, daß sein Tod so rasch gekommen war. Aber immerhin. Bestimmt konnte sie noch ein Weilchen bleiben, um Roilants Ableben zu beobachten. Und in Cassireia, oder wo immer Eliset hingerichtet werden würde, konnte Valia da nicht eine unter vielen Zuschauern sein? Mit der ganzen Blindheit ihres von Scheuklappen begrenzten Verstandes übersah sie ein Dutzend Fehler in ihren Plänen. Und die sie erkannte, hielt sie nicht für so wichtig, womit sie letztlich -381- recht hatte. Der schwache Lichtschimmer, den sie entdeckte, beunruhigte sie. Sie hielt ihn für ein Anzeichen der Morgendämmerung. Dann nahm der Schimmer Gestalt an. Er zog sich um einen Schatten zusammen, drang in diesen Schatten ein, und der Schatten bewegte sich auf sie zu. Ohne irgendeine sichtbare Lichtquelle war er doch sehr gut zu erkennen, als leuchtete er von innen heraus. Ein Mann in mittleren Jahren, mit rotbraunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, und dem Gesicht Mevarys ­ nur zwanzig Jahre älter und vierzig Jahre verderbter. Valia begann zu frieren. Nicht wegen der Kälte der Nacht, dem eisigen Bad in der Grotte. Es war die Kälte des Entsetzens. Trotzdem tasteten ihre tauben Hände in ihrem Gewand nach dem gravierten grünen Stein, dem Amulett, das Tabbit ihr gegeben hatte, damit sie sich vor dieser Erscheinung schützen konnte ­ die einmal Valias Onkel gewesen war, Mevary, Mevarys Vater. Der liebe Anverwandte, den sie in dem Heißwasserbecken ertränkt hatte. Niemals war sie so wenig vorbereitet gewesen, ihm entgege nzutreten, niemals so weit weg von den Schutzzaubern, die den Geist daran gehindert hatten, sich ihr zu nähern. Aber der grüne Stein hatte Macht. Sie hatte gesehen, wie er die Teufel abschreckte, die Tabbit ein- oder zweimal beschworen hatte. Warum konnte sie ihrer Furcht nicht Herr werden? »Dämon oder Geist«, zischte sie und hielt den Stein vor sich, »löse dich auf oder hebe dich hinweg. Ich befehle es dir bei der Macht dieses Steines.« Es gab eine kleine Schwierigkeit. Die Wirkung all der Schutzzauber und des Steines ­ wenn es jemals eine gegeben hatte ­ stammte von Tabbit. Und aller Wahrscheinlichkeit nach war Tabbit jetzt tot. Obwohl er sich langsam bewegte, erreichte der Geist Valias -382- regungslose Gestalt. In seinem Gesicht zeigte sich keine Freude, keine Wut. Er packte sie nur und zog sie zu sich heran. Und wenn er auch körperlos war, konnte sie sich doch nicht gegen seine Umarmung wehren. Die furchtbare Kälte der Angst wurde ausgelöscht von der Kälte und Starre, in die der Untote sie hüllte. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstarb. Ihr Körper wurde kraftlos, schien zu schweben, alles Bewußtsein zu verlieren. Nur ihr Gehirn lebte weiter. Mit einem leisen Knacken fiel der Talisman zu Boden und zerbrach in zwei Teile. In dem Badehaus, im Zwielicht des dämmernden Morgens traf Cyrion noch einmal auf Valia. Sein Weg an die Erdoberfläche war einfach gewesen. Er war zu der Stelle zurückgekehrt, an der er das Seil verborgen hatte, und war in Gerris' unruhiges Grab zurückgeklettert. Der Eisenhaken begann tatsächlich, sich zu lösen, aber er hatte immerhin seinen Dienst getan. Cyrion sah sich gezwungen, Elisets Vater noch einmal von seinem Ruheplatz zu entfernen, legte ihn aber mit Ehrerbietung zurück, bevor er aus dem Grab stieg, dessen Deckel noch nicht wieder geschlossen worden war, wie Cyrion es auch am frühen Abend Eliset gegenüber erwähnt hatte. Sonst war alles noch so, wie er es verlassen hatte. Die betäubten Wachen und Roilant lagen in tiefem Schlaf. Und niemand war auf einem Pferde geflohen. Im Küchenhof gab es nur trockene Blätter. Harmul und Zimir waren anscheinend einer der vernünftigen Traditionen von Flor gefolgt und hatten sich davongemacht. Seine Suche führte ihn schließlich in das Badehaus. Und dort lag sie, Gerris' zweite Tochter. Ihr Haar wirkte schwarz in dem Rest Wasser, der sich noch in dem Becken befand, und trieb ziellos umher wie eine Wolke Tinte. Und auch sie hatte jetzt keine Ziele mehr, als sie dort auf dem Gesicht lag, alle ihre Hoffnungen und Träume und all ihre -383- Zauberkraft waren für immer verloren. Zum zweiten Mal, und diesmal endgültig, war Valia ertrunken. Nachwort Im rosigen Licht des frühen Morgens trafen die Abgesandten des Statthalters von Cassireia ein. Nach einer ziemlich verworrenen und nicht eben liebenswürdigen Unterhaltung mit Roilant von Beucelair ritten sie wieder davon. Eine Stunde später, nach einer sogar noch weniger liebenswürdigen Unterhaltung, wurde aus Roilants angeworbenem Söldner sein Ex-Söldner, und auch er verließ Flor. Irgendwann gegen Mittag brachte Harmul, der von seinem Versteck auf einem Apfelbaum zurückgekommen war, einen leichten Imbiß in den Pavillon auf der Dachterrasse. Der Tag war sehr heiß; die Sonnenstrahlen bohrten sich wie Pfeile in abgeschabtes Holz, zerschlissene Seide und müdes Fleisch. Roilant, der von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt wurde, betrachtete das Essen mit Abscheu. »Ist es diesmal sicher, was meint Ihr?« »Ganz sicher«, beruhigte ihn Cyrion und machte sich über Brot und Käse her. »Auch der Wein?« »Auch der Wein.« »Ich hätte vorsichtiger sein sollen.« »Allerdings. Es hat mich überrascht, daß Ihr es nicht wart.« »Ich hatte mein Hauptaugenmerk auf Mevary gerichtet und ­ auf Eliset.« »Und jetzt wißt Ihr, daß Ihr Euch geirrt habt.« »Ich kann niemals ­ was muß sie von mir denken?« »Ihr solltet sie fragen.« »Dieser Bericht, den Ihr für mich geschrieben habt«, -384- murmelte Roilant. »Ihr glaubt, daß Eliset ihn gelesen hat?« »Oh, ich glaube schon. Um sich zu schützen, hat sie sich dumm gestellt und getan, als wüßte sie nicht, was hier vor sich ging. Aber sie ist weder unwissend noch dumm.« »Und Valia ­ diese Einzelheiten, die Ihr über ihr Leben und ihre Beweggründe berichtet habt. Wie in Gottes Namen seid Ihr darauf gekommen, daß Jhanna Valia war ­ und daß sie das auslösende Moment hinter all diesen Vorgängen war?« Cyrion trank einen Schluck Saft. Dann sagte er: »Ihre Stimme verriet sie sofort.« »Ihre Stimme?« »Sie war wunderschön und der Elisets sehr ähnlich. Nicht ungewöhnlich bei Schwestern, auc h wenn es nur Halbschwestern sind. Es gab auch noch andere Hinweise. Die ungewöhnliche Zusammenstellung von grauen Augen und olivfarbener Haut und der rote Schimmer in ihrem Haar, der mich sofort an Eure Familie erinnerte. Während für eine Sklavin, als die sie sich ausgab, ihr Benehmen einigermaßen hochfahrend war. Daß sie eine Mörderin war, wurde bei der Hochzeitsfeier offenbar. Vorher hatte sie mir bereits ein Mittel gegeben, mit dem ich mich vor Eliset schützen sollte. Ich untersuchte es und fand heraus, daß es sich lediglich um eine parfümierte Flüssigkeit handelte, die heftigen Brechdurchfall verursachte, aber sonst nichts. Jhanna war begierig darauf, Unheil zu stiften. Ihr Geschenk erwies sich aber doch als nützlich. Sie versuchte, mich mit einer entsprechend hergerichteten Rose in tiefen Schlaf zu versenken. Nachdem ich diese losgeworden war, benutzte ich das Mittel, um mein Zimmer zu parfümieren, damit nicht auffiel, daß ich die Falle entdeckt hatte. Dann kam das bewußte Abendessen. Selbst der ungeschickteste Mörder hätte mir nicht Gift serviert, das sich durch unübersehbare ­ und unappetitliche ­ Folgen als solches verrät. Ich kam zu dem Schluß, daß, wer -385- immer Euch aus dem Weg haben wollte, es darauf anlegte, daß der Mord nicht nur vermutet, sondern bewiesen wurde. Und wenn das so war, dann warum? Seht Dir«, sagte Cyrion, »die ganze Geschichte, wie Ihr sie damals erzählt habt, war von Anfang an zu flach. Gerüchte hängen sich wie Kletten an jedes Vorkommnis und geben ihnen vertraute Formen. Eine adoptierte Schwester verschwindet unter geheimnisvollen Umständen. Die ehelich geborene Schwester war neidisch und entledigte sich ihrer. Eine wenig begüterte Frau heiratet einen reichen Mann. Also muß sie es auf sein Vermögen abgesehen haben. Ich kam hierher in der Hoffnung, hinter diesen ewig gleichen Vermutungen etwas anderes zu finden. Und ich fand es.« »Aber darauf zu kommen, daß Valia noch lebte.« »Das vermutete ich von Anfang an. Während die Geschichte von im Meer wohnenden Sirenen, die Kinder entführten, m ir schon ganz aufschlußreich vorkam. Dann entdeckte ich, daß der Brunnen als eine Art Tür benutzt wurde. Zum Nachteil für Valias Gesundheit befand er sich ein wenig zu nahe beim Badehaus. Onkel Mevarys Geist war eindeutig auf der Suche nach jemandem. Ich hatte mich gefragt, nach wem.« Roilant erschauerte. »Ich will Euch den Geist glauben«, meinte er. »Ich habe sie in dem Wasserbecken liegen gesehen.« »Gerechtigkeit«, bemerkte Cyrion unbeeindruckt. »Immerhin hat sie ihn umgebracht, das solltet Ihr nicht vergessen. Ich glaube, daß ihr Wunsch, den Sohn zu töten, den Vater beflügelte. Ihr Erfolg in der Sache scheint dem Onkel die Macht gegeben zu haben, nun sie zu töten. Obwohl ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, daß Vater und Sohn nicht eben mit überschwänglicher Liebe aneinander hingen. Vielleicht war es das frische Blut, das den alten Knaben anspornte.« Roilant nahm einen Schluck Wein, lauschte in sich hinein, ob er ihn bei sich behalten konnte, und seufzte dann erleichtert. »Und Ihr habt von Anfang an Elisets Unschuld erkannt! Hätte -386- ich nur so viel Vernunft bewiesen.« »Nicht von Anfang an. Aber nachdem ich den Eindruck gewonnen hatte, daß sie keine Närrin war, überraschte es mich, sie sagen zu hören, daß Ihr erst sterben dürftet, nachdem Ihr sie geheiratet hättet ­ und das, wo sie Euch ganz in der Nähe vermuten mußte, auf dem Weg zum Abendessen und erpicht auf jede Bemerkung über Eure Person. Hätte sie tatsächlich geplant, Euch zu ermorden, wäre sie vorsichtiger gewesen. Wie auch Mevary ­ eine andere Möglichkeit kommt in Anbetracht seines etwas beschränkten Denkvermögens nicht in Frage. Beide hätten sich nie auf das Glücksspiel eingelassen, daß Ihr diese Unterhaltung etwa belauschen und prompt nach Heruzala flüchten könntet. So wie ich Euch spielte, wart Ihr nur nach Flor gekommen, weil ihr Euch selbst eingeredet hattet, daß sie nichts Böses im Schilde führten. Die geringste Bedrohung hätte Eure Flucht zur Folge gehabt. Nein. Was sie bei diesem Gespräch beabsichtigte, war, Mevary an die regelmäßige Geldsumme zu erinnern, mit der er nach der Hochzeit rechnen konnte. Und er wollte sie zu der Hochzeit ermuntern. Womit bewiesen war, daß er ihr gege nüber nie erwähnt hatte, daß es noch eine andere Möglichkeit gab, zu Reichtum zu gelangen. Später gab es noch einen ähnlichen Vorfall, bei dem sie, wie ich glaube, Mevary davor warnte, irgend etwas gegen Euch zu unternehmen. Ihr war der Verdacht gekommen, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war und sie wollte Euch retten, wenn es in ihrer Macht stand.« »Tatsächlich?« Roilant riß die Augen auf. Und wurde rot. »Ihr seht«, meinte Cyrion liebenswürdig, »wie einfach es für Euch ist, ihr zu trauen. Trotz all der Befürchtungen Eurer Jugendjahre.« »Vielleicht war es nur meine ­ meine beunruhigende, erwachende Zuneigung zu einer ­ Aber da war mein Vater. Warum hat er sie noch auf dem Totenbett verleumdet?« -387- »Auch er hatte die Gerüchte gehört. Wie die Person, die Euch später brieflich davon Mitteilung machte. Sie hatte Liebhaber gehabt. Sie betrieb Zauberei.« »Und sein Sturz vom Pferd?« »Ein Unfall. Es sei denn, er hatte Feinde bei Hofe, die an dem Tag in seiner Nähe waren.« »Er wurde für einen ausgezeichneten Reiter gehalten.« »Von sich selbst? Wie jeder andere Mensch konnte er sich irren. Warum nicht auch bei einem Pferd?« »Ja. Mein Vater war von der Art. Nicht, daß ich ihm etwas Schlechtes nachsagen will. Es lag in seiner Natur. Dann fiel nur mein Onkel Mevary einem Mord zum Opfer. Oder etwa nicht?« »Ich merke, daß Ihr lernt, in mir zu lesen wie in einem offenem Buch. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, daß auch Gerris vor seiner Zeit aus dem Weg geräumt wurde.« »Von Valia?« »Nein. Von dem reizenden Onkel Mevary höchstpersönlich. Er hatte es auf Flor abgesehen, da ihm von seinem eigenen Besitz nichts mehr geblieben war. Das war für ihn Grund genug. Wenn ich recht habe, machte ein zynisches Schicksal Valia zur Rächerin ihres gehaßten Vaters.« »Ich kann mich erinnern, wie er ­ mein Onkel Mevary ­ meine Hochzeit mit. Eliset hinauszögerte, nachdem er sich durch das Verlöbnis Vorteile gesichert hatte. So lange wie eben möglich wollte er der Herr auf Flor sein. Und über sie. Ein Ungeheuer. Wie auch sein Sohn. Ich kann für keinen der beiden Mevarys Trauer empfinden, weder für den Onkel noch für den Cousin. Obwohl mein Cousin Mevary den Tod nicht verdient hatte.« »Er hindert ihn aber daran, seiner Umgebung weiterhin Schaden zuzufügen.« Roilant runzelte die Stirn. »Außerdem gab es wohl keine -388- Möglichkeit, ihn zu retten.« Cyrion, der sein Mahl beendet hatte, stützte einen Ellenbogen auf den niedrigen Tisch. Er begegnete Roilants Blick mit zwei Augen, die so klar waren wie ein klarer See im Winter, nur sehr viel kälter. »Keine«, bestätigte Cyrion sanft. Die Mischung von überirdischer Unschuld und dämonischer Liebenswürdigkeit war niemals offener zutage getreten. Einen Augenblick lang war Roilant erschüttert. Fühlte sich beinahe abgestoßen. Dieser Mann, dem er sein Leben und Glück anvertraut hatte, was, in Gottes Namen, war er? »Sagt mir«, fragte Roilant, »sagt mir aufrichtig, was habt Ihr von dieser Sache gehabt?« Cyrion lächelte sein engelsgleiches Lächeln. »Das Vergnügen, Euch behilflich gewesen zu sein, mein Lieber. Plus der atemberaubenden Belohnung, die Ihr mir in die ausgestreckte Hand drücken werdet.« »Eine Belohnung, über deren Hö he Ihr nie mit mir gesprochen habt.« »Habe ich nicht? Ein betrübliches Versäumnis.« »Welches vermuten läßt, daß es Euch nicht kümmert, wie viel man Euch bezahlt oder ob man Euch überhaupt bezahlt. Was wiederum vermuten läßt -« »Die Erregung der Jagd ist Be lohnung genug?« Cyrion wirkte gelangweilt. »Wie schrecklich albern.« Roilant sprang auf. »Ich bin mit dem Statthalter verabredet. Valias Leichnam ist ­ ist für den Transport hergerichtet. Anschließend werde ich wahrscheinlich gleich nach Heruzala Weiterreisen. Hier hält mich nichts mehr. Natürlich werde ich mit Eliset korrespondieren und ihr Geld schicken. Die ganze Apanage, auf die sie seit langem Anrecht hatte.« »Solltet Ihr das ihr nicht persönlich sagen?« -389- »Ich glaube, ich habe genug getan. Ich habe ihr gesagt, daß Mevary in der Höhle getötet wurde und daß Valia ­ Eliset hat sich eingeschlossen. Sie kann nichts weiter als Verachtung für mich empfinden. Haß vielleicht. Ich hätte sie zur Frau haben können. Bei allem, was sie sagte, sprach sie die Wahrheit. Ja, kh weiß, daß sie Liebhaber hatte. Zum Teufel damit. Was stören sie mich. Aber trotzdem. Ich bin ­ oder ich war ­ einer Dame in Heruzala verbunden, die viel besser zu mir paßt, nachdem -« »Nachdem Ihr Euch selbst eingeredet habt, daß Ihr so wenig wert seid, daß nur eine schlichte und anspruchslose Frau Euch ertragen kann«, beendete Cyrion gnadenlos den Satz. Roilant wurde von einer, für ihn ungewöhnlichen, Wut übermannt. »Seid still!« schrie er. »Verdammt, was seid Dir? Eine Kreuzung zwischen Gänseblümchen und Rasierklinge? Eine Art Mischling aus Himmel und Hölle? Ihr habt meine Arbeit für mich getan. Alles andere geht Euch nichts mehr an.« »Eigentlich -« »Ruhe!« brüllte Roilant wieder. Hob den Weinkrug auf und warf ihn nach Cyrion. Der sich träge duckte. Der Krug zerschmetterte eine der fünf noch unbeschädigten Türen des Pavillons und riß sie aus den Angeln. Krachend fiel die Tür auf das Dach, und Elfenbein splitterte. Ohne ein weiteres Wort trat Roilant durch die neu geschaffene Öffnung und gab ihr damit einen Sinn. Am Rand der Dachterrasse bemerkte er: »Euren Lohn wird man Euch schicken.« »Oh?« sagte Cyrion. »Und wohin werdet Ihr ihn schicken?« »Zum>Olivenbaum<. Also kehrt besser dorthin zurück.« Zehn Minuten später ritt Roilant, in der verständlichsten schlechten Laune seines Lebens, gefolgt von seinen Leibwächtern in Richtung Cassireia. -390- Unberührt von all diesen Vorgängen ging die verwilderte Landschaft um Flor nach einem geschäftigen Morgen in die dösende Stille des späten Nachmittags über. Innerhalb der dicken grünen Mauern der Obstgärten summten die Insekten, naschten überreichlich und fielen berauscht zu Boden, die Früchte gärten an den Asten und im Gras und verbreiteten ihre alkoholischen Dämpfe. Eliset, statt in ihrem Zimmer jetzt in diesem grünen Sonnenkeller aus Wachsen und Vergehen eingeschlossen, stand regungslos wie eine weiße Statue in dem lichten Schattenspiel der Blätter, atmend, schauend, als hätte sie nach hundertjährigem Schlaf das erste Mal wieder die Augen geöffnet. Ihr Haar schimmerte grüngolden, wo die Sonne darauf schien, und die weitgeöffneten Augen waren dunkel vor Aufmerksamkeit. Sie trug das zerschlissene Kleid, in dem Cyrion sie zuerst gesehen hatte und dessen Saum jetzt von dem Saft der ze rquetschten Früchte fleckig war. Ob sie fröhlich war oder ernst oder traurig, war nicht erkennbar. Sie existierte ganz einfach nur und fügte sich damit nahtlos in die Stimmung des Ortes und dieser Stunde ein. Und als Cyrion, ohne ein Geräusch zu verursachen, durch eine Lücke zwischen den Bäumen vor sie trat, machte sie keine Bewegung, weder auf ihn zu, noch von ihm weg oder sonst wie. »Ihr bietet«, sagte er leise, »einen sehr fesselnden Anblick. Es bedarf jetzt nur hoch eines heidnischen Gottes, der sich zu Euch gesellt, um das Bild vollkommen zu machen.« »Ein heidnischer Gott«, meinte sie nachdenklich. »Er hat sich bereits zu mir gesellt.« Er sagte: »Roilant ist nach Cassireia aufgebrochen.« »Ich weiß. Wie es scheint, muß ich jetzt doch Trauer vortäuschen. Mevary und Valia. Theater, sonst nichts. Ich traure nicht. Außerdem wird die ganze Angelegenheit vertuscht -391- werden.« »Zweifellos. Selbst Harmul wurde bestochen und weggeschickt. Zimir und Dassin würde es genauso ergehen, wenn man sie finden könnte.« »Und so werde ich endlich frei sein, mein Leben allein zu leben ­ umgeben von Verfall. Ihr müßt wissen, ich war gezwungen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Ich liebe Flor, aber Flor ist tot. Ich habe mich an einen Leichnam geklammert, in dem Glauben, daß ich ihn verlieren würde. Jetzt scheint es, daß ich dazu verdammt bin, ihn zu behalten. Ja, hier ist Schönheit. Und auch meine Vergangenheit. Vielleicht kann ich zufrieden sein. Aber auf diesem Boden haben zu viele Kämpfe stattgefunden. Alles, was ich an Schönem sehe, erinnert mich an etwas anderes, Bitteres.« Cyrion schwieg. »Ich kann mir vorstellen«, fuhr sie fort, »daß Ihr, Geschöpf der Tat, das Ihr seid, mich verachtet. Mein großer Fehler ist gewesen, daß ich mit Absicht vor allem, was hier vor sich ging, die Augen verschlossen habe. Es schien die einzige Möglichkeit, um überleben zu können. Mit allem einverstanden zu sein. Zu schmeicheln, zu loben, alles zu tun, was man mir befahl ­ sogar bei einem verbrecherischen Begräbnis zu helfen. Ach, mein blindes Vertrauen. Ich glaubte fest daran, daß der Alptraum vorübergehen würde, wenn ich ihn einfach nicht zur Kenntnis nahm. Jetzt ist er vorbei. Und jetzt ist mir ­ sehr wenig geblieben. Nun, ich werde hier umgehen. Mit den Geistern.« »An die Ihr glaubt?« »Ich glaube, daß es hier Geister gibt. Oh, nicht die, an die zu glauben ich vorgab. Das Getümmel hielt ich für Orgien, die Mevary und Jhanna ­ Valia ­ miteinander feierten. Ich fürchtete auch irgendwelche abscheulichen magischen Rituale und versteckte mich, natürlich. Als Ihr von den Träumen gesprochen habt, die Euch ­ die Roilant ­ veranlaßten, hier herzukommen... -392- Ich fragte mich, ob sie sie Euch gesandt hatte, auf Mevarys Anweisung. Ihr seht, ich glaube nicht an Zauberei, aber an die Macht eines entschlossenen, bösen Gehirns, daran glaube ich, und sie, Jhanna, Valia ­ sie fürchtete ich von dem Augenblick an, da sie das Haus betrat. Seine Hure, wie auch ich es war, nachdem er mich dazu gemacht hatte, bediente mich, versuchte, sich in mein Vertrauen einzuschleichen, meine Schwächen herauszufinden. Ich gab ihr nicht nach. Aber sie war wie ein kalter Wind in meinem Rücken.« Eliset schwieg einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: »Da ist noch etwas, das mir Angst macht. Mein Vater. Ich las Euren Brief, wie Ihr es vorausgesehen hattet. Gerris wurde darin nicht erwähnt. Wurde er vergiftet?« »Es kann sein.« »Von meinem Onkel.« »Ihr habt Eure Frage selbst beantwortet. Auch ich glaube, daß er es war.« Langsam wandte sie sich von ihm ab. Schließlich sagte sie: »Als ich bei unserem fürchterlichen Hochzeitsessen Euren Becher nahm, schien Euch das zu beunruhigen. Glaubtet Ehr, ich würde mich vergiften?« »Es war möglich. Jemand hatte Gift in einen der Becher getan. Zu dem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher, in welchen.« »Also wart Ihr inzwischen von meiner Unschuld überzeugt, nach unserem dramatischen Wortwechsel auf dem Marktplatz von Cassireia?« »Nicht ganz. Da war immer noch ein Teil dieses faszinierenden Puzzles übrig, das sich einfach nicht unterbringen ließ. Und das hatte mit Euch zu tun, Eliset. Ein Rätsel. Trotz Eurer offe nsichtlichen Unschuld hätte ich nicht schwören mögen, daß Ihr keine Zauberin seid.« »Und könnt Ihr es jetzt beschwören? Sollte ich zittern?« -393- »Ich sagte, ein Rätsel. Ich bin sicher, daß ich die Lösung gefunden habe.« »Und ich bin freigesprochen?« »Ihr seid freigesprochen. Außer, daß es vielleicht Auswirkungen auf Euer zukünftiges Leben haben wird.« Sie wartete. Ein Vogel sang zwischen den Blättern. Statt ihr von der Lösung des Rätsels zu erzählen, begann Cyrion über den Vogel zu sprechen, sein Lied, sein Gefieder, seine Wanderungen. Eliset lauschte verblüfft. Bald ging sie neben ihm durch das gärende Herz des Obstgartens. Er erzählte von den Blumen, an denen sie vorbeikamen, und als zwischen den Stämmen ein Stück der alten remusanischen Mauer zu sehen war, erzählte er ihr von den Remusanern. Seine Stimme, klangvoll und makellos, nahm sie völlig gefangen. Irgendwo tief drinnen wußte sie, daß sie nie mehr vergessen würde, daß der kleine Vogel im Winter nach Kyros und Askandris flog oder daß man die weiße Blume für ein Mittel gegen Schlaflosigkeit hielt oder daß ein Offizier der Remusaner, dem die Mittagshitze zusetzte, in die Mauer eines alten Gasthauses in Teboras die Worte geritzt hatte: Legionäre wurden hier gebraten. Aber dann sagte sie doch: »Das ist eine eigenartige Unterhaltung, die wir hier führen.« »Oh«, meinte er. »Ich bin der Ansicht, für einen oder zwei Tage hat es genug Blutvergießen und Gewalt gegeben. Abwechslung muß sein.« Sie ließen die Obstgärten hinter sich und traten auf den dürren Rasen unterha lb des Abhangs. Vor ihnen stieg der Boden an, bis zu der verdorrenden Buche, dem baufälligen Haus, dem schiefen Turm und dem dahinter verborgenen Meer, dessen zeitlose Schönheit den Verfall ringsherum gnadenlos betonte. -394- Eliset nahm das Bild in sich auf. »Meine Mitgift. Bedenkt nur. Wenn Ihr mich tatsächlich geheiratet hättet, würde all das Euch gehören.« »Und bedenkt Dir, welch unwürdigen Gatten Ihr Euch damit eingehandelt hättet.« »Ich hielt Euch für Roilant.« »Wirklich?« Sie sah ihm in die Augen. »Ihr wiß t, daß es so war.« »Ich glaubte es«, gab er zu. »Rückblickend bin ich mir nicht mehr so sicher. Aber diesmal kann ich weder auf Beweise noch auf Logik zurückgreifen.« Sie senkte die Augen. »Also gut. Da Ihr nichts fordert, werde ich es Euch umsonst geben. Ich spielte meine Rolle weiter und nahm nicht zur Kenntnis, was ich entdeckt hatte, wie ich auch alles andere nicht zur Kenntnis nahm, was mir gefährlich werden konnte. Vielleicht war es ein Spiel von Mevary. Oder von Roilant. Denn ich wußte, daß ich in Euch nicht Roilant vor mir hatte. Es war mehr, als nur eine Ahnung.« »Was hat mich verraten?« fragte er. Und dann, so leise, daß sie es kaum verstehen konnte: »Eliset?« Sie hob den Blick. Die Sonne verlieh ihren Augen jede Schattierung von Blau, die es auf der Welt gab. »Auf den Klippen«, sagte sie. »Euer Kuß hat Euch verraten.« »Weil Roilant Euch nicht geküßt haben würde?« »Weil es nicht der Kuß Roilants war.« »Und trotzdem habt Ihr mich geheiratet, einen Betrüger.« »Ich ahnte inzwischen, daß die Zeremonie nicht gültig sein würde. Obwohl ich Angst genug hatte, um Euch zu bitten, für diese Nacht nach Flor zurückzukehren.« »Ihr hattet nicht die Befürchtung, daß ich die Rechte eines Ehemannes geltend machen würde?« -395- Sie antwortete: »Davor hatte ich keine Angst. Wie Ihr wißt, gab es andere, die sich mir aufgezwungen haben.« »Und ich war lediglich noch einer.« »Einer, den ich selbst gewählt hätte, und mit Freuden.« Was sie sagte, schien ihren Stolz und ihre Gelassenheit nicht zu beeinträchtigen, nur der heftige Pulsschlag an ihrem Hals ließ ihre Haut weiß aufleuchten, wie eine schwankende Blüte. Cyrions Hände, jetzt nicht mehr die eines Kriegers, sondern die eines Musikers, strichen leicht über ihre Haare, ihren Mund, ihre Stirn. Sie schloß die Augen, als seine Lippen den Händen folgten. Seine Arme umfingen sie, und einen Augenblick lang schwebte sie im Nichts, und dann vergaß sie alles außer dem Mann, der sie hielt. Vergas die Wärme der weit entfernten Sonne und den Gesang des kleinen Vogels, der im Winter in die Wüste flog. Entlang einer Straße in Heruzala, die wegen ihrer Nachbarschaft zu einem alten remusanischen Gefängnis Festungsstraße genannt wurde, stand eine Anzahl schöner Häuser, die jetzt allmählich verfielen. In dieser einst vornehmen Gegend sprachen hohe Mauern und feste, verriegelte Tore von vergangenem Reichtum. Eines der Häuser an der Festungsstraße hatte, zumindest für Roilant von Beucelair, eine besondere Bedeutung. Es war das Heim der Dame, von der er sich getrennt hatte, um sie vor der Zauberkraft Elisets zu schützen ­ oder, wie sich herausgestellt hatte, vor der Valias. Sehr früh an einem Sommermorgen wurde Roilants Dame von der Ankündigung, daß ein rothaariger Herr sie zu sprechen wünschte, in größte Verwirrung gestürzt. Ihre Verwirrung steigerte sich noch, als sie beim Betreten des Empfangsraums feststellen mußte, daß der Besucher nicht der war, den sie erwartet hatte. Cyrion verneigte sich höflich. -396- »Vergebt mir«, sagte er. »Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich mir die Gelegenheit, mit Euch zu sprechen, unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen habe.« Roilants Auserwählte gewann ihre Haltung zurück. Ihr nicht schönes, aber angenehmes Gesicht glättete sich. Sie sagte: »Eigentlich hätte ich wissen müssen, daß es nicht Roilant war. Sein Brief kündigte an, daß er gegen Mittag hier eintreffen werde. Daß er sich ein wenig verspätete, wäre möglich, aber zu dieser unschicklich frühen Stunde würde er nie bei mir vorsprechen. Auch meine Zofe neigt gewöhnlich nicht zu rätselhaften Scherzen. D sie mit den Augen rollte und etwas aß von einem rothaarigen Besucher quiekte, erschien mir einigermaßen ungewöhnlich, um nicht zu sagen unästhetisch.« Cyrion lächelte. »Ihr seid sehr liebenswürdig, trotz Eurer Enttäuschung. Denn ich weiß, wie groß Eure Enttäuschung sein muß, daß ich nicht Roilant bin.« Cyrion machte eine bedeutungsschwere Pause. »Ihr wißt natürlich, daß er beabsichtigt, um Eure Hand anzuha lten.« »Ich -«. Die Dame errötete. »Sein Brief schien mir so etwas anzudeuten. Seine Verlobung mit dem Fräulein Eliset -« »- scheint sich als wenig wünschenswert erwiesen zu haben. Ihr werdet mich doch nicht für voreilig halten, wenn ich Euch meinen Glückwunsch entbiete?« »Ganz ­ und gar nicht.« Auf dem Gesicht der Dame erschien ein Zug von Entschlossenheit. »Ganz besonders dann nicht, wenn Ihr mir erklärt, wer Ihr seid und weshalb Ihr mit nur sprechen wollt.« »Dazu kommen wir noch«, erwiderte Cyrion. »Aber geduldet Euch noch ein wenig.« »Weshalb, bitte sehr?« »Weil das, was ich zu sagen habe, Euch vielleicht von Nutzen -397- ist.« Roilants Auserwählte verschränkte die Hände und setzte sich. Nichts verriet ihre Unruhe, nur ihre Finger waren ein wenig zu fest ineinander verschlungen, als fürchtete sie, daß etwas zwischen ihnen hinausschlüpfen könnte. Oder hinein. »Nun?« »Nun«, sagte Cyrion. »Roilant wird Euch nicht damit beunruhigt haben, aber bevor er seinen ­ darf ich es sagen? ­ festen Entschluß aufgab, Euch um Eure Hand zu bitten und statt dessen Anstalten machte, seine ihm seit langen Jahren versprochene Cousine Eliset zu heiraten, geschahen einige merkwürdige Dinge. Es hatte den Anschein, daß die Fürstin Eliset ihn heimsuchte, um ihn an sein Versprechen zu erinnern. Diese Heimsuchung äußerte sich in Amuletten, die durch die Luft flogen, und getrockneten Blüten, die auf sein Kissen fielen.« »Vielleicht«, warf Roilants Auserwählte ein, »waren diese Vorfälle die Folge eines schlechten Gewissens, weil er sie verlassen hatte. Und deshalb quälen sie ihn vielleicht immer noch, oder nicht?« »Die Vorfälle waren eine Folge von Zauberkraft«, entgegnete Cyrion. »Bewirkt von einer sehr fähigen Hexe, die imstande war, Trugbilder zu erschaffen und toten Gegenständen Leben einzuhauchen. Ich will gerne zugeben, daß solche Macht mich beeindruckt.« »Ja«, meinte Roilants Auserwählte, »wenn Ihr an so etwas glaubt, soll es Euch wohl beeindrucken. Andererseits, wenn man die Existenz von Magie anerkennt, können die Andenken, die Eliset ihm schickte, sehr wohl ihr eigenes Leben entwickelt haben, um ihn zu strafen.« »Dann wußtet Ihr, daß das Amulett und die Blumen Andenken waren, die sie ihm geschickt hatte?« Roilants Auserwählte holte tief Atem. Wieder stieg ihr eine -398- feine Röte ins Gesicht. »Er erzählte mir, im Vertrauen, einiges von dem, was zwischen ihnen vorgegangen war. Und daß er diese Dinge erhalten hatte.« »Das Amulett also und die Blumen. Aber ein Paar billiger Handschuhe scheint nicht erwähnt worden zu sein. Sonst hättet Ihr sie nicht ausgelassen.« »Handschuhe? Nein, er sagte nichts von Handschuhen. Aber was geht mich das an? Oder Euch?« »Verratet mir«, sagte Cyrion, »wollt Ihr wirklich Euch und ihn zu einer unglücklichen Ehe verdammen, nur weil Euer Vater sich das in den Kopf gesetzt hat und Eure Zaubereien erfolglos blieben?« Roilants Auserwählte sprang auf. War sie bei seinem Eintreffen verwirrt gewesen, so war sie jetzt außer sich. Ihre Wangen glühten purpurrot, ihre verkrampften Hände waren weiß. »Was sagt Ihr da?« »Ihr wißt sehr gut, was ich sage.« Cyrion trat an ein Fenster und bewunderte den Blick auf einen verwilderten Rosengarten. »Ich weiß von nichts. Ich -« »Um es ganz offen zu sagen. Obwohl Ihr sehr sorgfältig vorgegangen seid, habt Ihr doch einiges übersehen. Erstens, selbst der wenig phantasievolle Roilant, der plötzlich Erscheinungen sah und sich wenig erfolgreich vor herumfliegenden Amuletten duckte, gab weder seinem schlechten Gewissen noch Gottes Zorn die Schuld, sondern ließ die Vorfälle untersuchen. Der Mann, den er damit beauftragte, versicherte ihm, daß Zauberei am Werke war. Da das nun geklärt war, mußte Roilant Eliset für die Zauberin halten. Ich bin sicher, daß Ihr niemals die Gerüchte gehört habt, die Eliset der Zauberei bezichtigten, und Roilant wird sich ritterlich -399- darüber ausgeschwiegen haben, oder Ihr hättet das berücksichtigt. Inzwischen hat Roilant herausgefunden, daß Eliset schuldlos ist, und verdächtigt eine andere Person. Aber ich hatte Gelegenheit, diese Person zu beobachten. Ihre magischen Fähigkeiten waren kaum der Rede wert. Ohne Unterstützung von Trunken und Giften war sie so gut wie machtlos. Obwo hl sie selbst vielleicht davon überzeugt war, daß sie das, was Roilant zugestoßen war, mit ihrer Willenskraft bewirkt hatte, war es nicht an dem. Und da ist noch etwas. Da bestimmte Gegenstände bei diesen geheimnisvollen Vorfällen eine Rolle spielten ­ Amulett, Blumen ­ muß man davon ausgehen, daß derjenige, der dafür verantwortlich war, davon wußte. Eliset wußte natürlich Bescheid. Sie hatte die Geschenke an Roilant geschickt. Aber Eliset war nicht die Zauberin. Während die zweite Person, von der ich sprach, kaum Bescheid gewußt haben dürfte. Eliset hatte weder zu der Frau, noch zu ihrem anderen Cousin, Mevary, genug Vertrauen, um ihnen irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen. Was mir außerdem auffiel, war das Aussehen der Eliset, die Roilant als Geist erschien. Sie war schlank und hatte goldenes Haar, aber kein Gesicht. Auch sprach sie kein Wort. Was sie zu sagen hatte, erschien als Flammenschrift in der Luft. All das lief auf ein Rätsel hinaus. Wer konnte über Elisets Haarfarbe und ihre kleinen Geschenke Bescheid wissen ­ ohne aber ­ verständlicherweise ­ solche Einzelheiten wie die Gesichtszüge und Stimme zu kennen, da er sie nie getroffen hatte?« Es gab eine kleine Unterbrechung, und Cyrion betrachtete rücksichtsvoll den Rosengarten, während hinter ihm eine Reihe von Protesten geäußert wurden. Dann schloß er: »Es tut mir leid, aber das sind die Tatsachen. Aber was ist der Grund? Es scheint, daß Ihr doch nicht den Wunsch habt, den unglücklichen Roilant zu heiraten. Sobald Euch klar wurde, aus welcher Richtung der Wind seiner Zuneigung wehte, trieb Euch der Schreck das Blut in die Wangen, wie auch jetzt. Was er bedauerlicherweise für -400- Zustimmung hielt. Daraufhin habt Ihr Eure beachtlichen Fähigkeiten dazu benutzt, seine Aufmerksamkeit von Euch ab- und auf seine langjährige Verlobte zurückzulenken. Ihr mußtet ihn nur an seine Pflichten gegenüber Eliset erinnern, und er würde Euch nicht mehr belästigen.« Roilants Auserwählte blieb der Mund offen stehen. Da das einen unvorteilhaften Eindruck machte, entschloß sie sich etwas zu sagen. »Wer seid Ihr?« »Ach ja. Mein Name ist Cyrion. Hilft Euch das weiter?« »Ihr ­ Ihr Schuft, Ungeheuer! Beschuldigt Ihr mich ungesetzlicher Handlungen?« »Eure magischen Fähigkeiten interessieren mich absolut nicht, nur in diesem besonderen Fall. Ihr könnt Schlangen aus König Malbans Ohren hervorzaubern und werdet nichts von mir hören, außer vielleicht einen gedämpften Applaus. Was Roilant betrifft, so sehe ich mich genötigt, ihn zu unterrichten. Allerdings gibt es noch eine andere Möglichkeit.« Roilants Auserwählte preßte die Lippen zusammen. Sie war blaß geworden. »Geld. Ihr wollt mich erpressen.« »Ich will eine unglückliche Ehe verhindern. Die andere Möglichkeit ist die, daß Ihr selbst Roilant zurückweist, wie Ihr es von Anfang an tun wolltet.« Sie fing an ihn zu beschimpfen, hörte aber bald wieder damit auf. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, daß Streiten sinnlos war. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, ja. Es ist, wie Ihr sagt. Roilant ist ein guter Mann, aber ich verspüre nicht die geringste Neigung, ihn zu heiraten. Oder sonst jemanden. Was ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe, ist zu reisen, zu lernen ­ allein, ungehindert. Roilant will von mir, was er in mir zu -401- sehen glaubt: meines Vaters Tochter. Sittsam, gut erzogen, fröhlich, gehorsam. Das war ich für meinen Vater und werde es weiter sein, solange er lebt. Aber danach hoffe ich auf Freiheit. Die Freiheit, das zu tun, was ich und nicht mein Mann ­ Gatte, Vater ­ wollte. Oh, mein Vater besteht auf dieser Hochzeit. Wir sind nicht vermögend, wie wir es einst waren, obwohl es uns nicht schlecht geht. Aber er redet sich ein, daß er sich nach Luxus sehnt ­ der großen Anzahl von Dienern, deren Anwesenheit er zu vergessen pflegte und die er nie in Anspruch nahm, den kostbaren Gewändern, die er niemals trug. Seine Erinnerung gaukelt ihm vor, daß er nur damals glücklich war. Und wie das wieder erreichen? Nun, ein reicher Mann für sein Kind. Ich bin nicht hübsch und hoffte, verschont zu bleiben, aber wie sich herausstellte, war mir das nicht vergönnt. Roilant stolperte über etwas in mir, das ihm gefiel, obwohl er mich nicht liebte. Es war Eliset, die er liebte und immer noch liebt. Er sprach fortwährend von ihr.« Roilants Auserwählte, die nicht seine Auserwählte sein wollte, schüttelte den Kopf. »Armer Roilant. Ich mochte ihn sehr gern. Aber ist das ein Grund zum Heiraten? Ich mag meine Katze sehr gerne. Und meinen alten Lehrer. Soll ich sie heiraten? Warum«, rief die junge Frau in offensichtlicher Verzweiflung, »glaubt nur jeder, daß ein unscheinbares Mädchen sich dem ersten Mann an den Hals wirft, der sie haben will? Und ich war so in Bedrängnis. Mein Vater ­ oh, er drängte mich unaufhörlich, den Antrag anzunehmen. Also versuchte ich, Roilant durch Zauberei zu beeinflussen. Natürlich w es schändlich. Wie viele Vorwürfe ar ich mir gemacht habe! Aber da ich diese Künste studiert hatte und über ein wenig Talent verfügte ­ sehr wenig Talent... Auch drohte die Sache mir zu entgleiten ­ ich befürchte, daß das Amulett heiß wurde und ihn traf ­ während die Blüten ihn zu erschrecken schienen ­ es tat mir aufrichtig leid, in meiner Kristallkugel zu sehen, wie er sich quälte... Aber da ich wußte, daß er nicht mich wollte, sondern sie, fühlte ich mich auch -402- wieder gerechtfertigt; denn ich wollte, daß er schuldbewußt zu ihr zurückgehen und mit ihr glücklich werden sollte. Das war alles. Und ganz bestimmt hat er mir nie etwas erzählt, das mich auf den Gedanken gebracht hat, er könnte sie für eine Zauberin halten, die ihn verhexte. Er sagte nur, daß sein Vater auf dem Totenbett die Verbindung verboten hätte, weil sie arm war. Wie auch ich es bin. Aber es scheint, daß ich mich wie eine Närrin benommen habe. Was soll ich jetzt tun?« »Was ich Euch vorgeschlagen habe. Erklärt ihm, daß Ihr ihn nicht heiraten werdet. Von der Zauberei braucht Ihr nichts zu sagen. Wie ich bereits erwähnte, wurde eine andere Person dafür verantwortlich gemacht, aber es stört sie nicht.« »Er hat so viele Zurückweisungen erfahren. Und mein Vater wird jammern und klagen. Himmel! Muß ich es Roilant sagen?« »Ja. Denn Ihr wollt ihn nicht.« »Aber dieser Verdruß. Das wird Wochen dauern.« »Aber nicht ein Leben lang.« Cyrion hatte sich von dem Fenster und dem Garten abgewandt, obwohl ein beachtlicher Schutthaufen auf der Terrasse seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Ich nehme an«, meinte sie langsam, »mir bleibt keine andere Wahl.« »Nein.« »Und über das andere werdet Ihr Stillschweigen bewahren, wenn ich meinen Teil der Abmachung erfülle?« Cyrion überzeugte sie mit einem Lächeln, das strahlender und vertrauenerweckender nicht sein konnte. Sie berührte ihr Haar und ihr Kleid, als wollte sie sich nach einem anstrengenden Kampf vergewissern, daß noch alles in Ordnung war. Cyrion war schon auf dem Weg zur Tür. Aber er blieb noch einmal stehen. »Da ist noch eine abschließende Frage, die ich Euch stellen -403- möchte«, sagte er. Beunruhigt schaute sie ihn an. »Und welche wäre das?« »Als der Regen die Terrassenüberdachung zum Einsturz brachte, wart ihr da in der Nähe?« »Das Dach -«. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« »Euer Vater, muß ich Euch sagen, hat den Vorfall anders geschildert. Er schrieb Roilant einen Brief des Inhalts, daß die herabstürzenden Ziegel Euch nur um Haaresbreite verfehlt hätten.« Die junge Frau lachte befreit auf. »Das hat er getan? Nun, Ihr Herr mit Namen Cyrion, als das Dach einstürzte, befand ich mich in der Bibliothek meiner Tante, drei Straßen weiter. Ich hörte nicht einmal den Lärm.« Die rosenrote Asche der untergehenden Sonne überpuderte die Dächer und den Hof des Gartenhauses>Der Olivenbaum<. Eine rosenrote Katze spielte mit einem kleinen rosenroten Ball, in dem eine winzige Glocke klingelte und klapperte. Unter den dunkelroten Blättern der Ranken, die den Hof überschatteten, waren ein Mann und eine Frau in ein Gespräch vertieft. Ihr Haar erinnerte an golden glänzende Flammen, für den Sonnenglanz seines Haares gab es keine Worte. »Nein«, sagte sie. »Ich kann mich nicht länger von Träumen nähren. Du, wie alles andere, würdest verschwinden, sobald ich erwachte. Du bist nicht das, was ich brauc he, Cyrion. Mein ganzes Leben bestand aus Unsicherheit, dem Zusammenbruch von Mauern und Hoffnungen. Ich will nicht lieben und dadurch verwundet werden. Ich möchte ­ brauche ­ endlich Sicherheit. Und er ist ein freundlicher Mann, mit vielen guten Eigenscha ften, denen man nur Gelegenheit geben muß, sich zu entfalten.« »Und die Gelegenheit würdest du ihnen geben.« -404- »Ich würde es versuchen. Jedenfalls würde ich nicht entwürdigen oder beschmutzen, was er mir geben kann. Für einen Hafen, mit Ankerplatz ­ für Frieden ­ könnte ich ihm eine Art Liebe entgegenbringen. In gewissem Sinne tue ich das schon seit vielen Jahren.« »Und wirst du damit zufrieden sein, Eliset, mein Herz?« »Ja. Während ich niemals zufrieden sein könnte, würde ich es mir gestatten, dich zu lieben. Was einfach ist, ist auch oft dumm. Es wäre dumm, dich zu lieben.« Cyrion betrachtete sie in dem verblassenden rosenroten Licht. Er antwortete nicht. Also sagte sie: »Denn du würdest mich verlassen, Cyrion. Götter und Engel sind für ihre Unbeständigkeit und Treuelosigkeit bekannt. Du würdest mich verlassen.« »Ja«, erwiderte er mit seltsamer und unveränderlicher Zärtlichkeit, »ich würde dich verlassen.« »Dann liegen unsere Wege deutlich vor uns. Und es sind nicht dieselben.« Bald darauf erlosch der letzte Lichtschimmer, und es blieb dem Blau des Abends überlassen, allen Dingen neue Farbe zu geben; blauer Himmel, blaue Blätter, blaue spielende Katze. Als Roilant in den Hof trat (zur gleichen Zeit, wie der erste Stern, wenn auch weniger schön), schaute er sic h um und spürte nichts von der Ruhe und dem Frieden des Abends. Seine Gedanken waren bereits woanders. Da er eine Nachricht vorausgeschickt hatte, daß er herkommen würde, um Cyrion sein Geld zu übergeben, hatte er das Versprechen eingehalten, obwohl er keinen anderen Wunsch verspürte, als möglichst schnell zu seinen Besitzungen bei Heruzala zu reiten und sich gründlich zu betrinken. Denn Roilants Auserwählte hatte ihm einen Korb gegeben. Sie war reizend und taktvoll gewesen, aber eisern. Von allen Männern h ätte sie ihn erwählt, wäre die Ehe das, was sie erstrebte. Aber sie wollte nicht heiraten. Sie war -405- eine Gelehrte und glücklicher allein. Ihr niedergeschlagener Vater, der sich im Gang herumdrückte, hatte Roilants Bestürzung noch vergrößert, indem er die Entscheidung seiner Tochter bejammerte. Offe nsichtlich wußte er auch nicht, wie man sie umstimmen konnte. Aber Roilant wollte sie auch nicht umstimmen müssen. Er hatte geglaubt, daß sie ihn wollte Jetzt, mit dieser Bürde zerbrochener Hoffnungen auf der Seele, dem Stempel endgültigen Versagens auf der Stirn, trat Roilant in den Hof der Schenke, hielt nach Cyrion Ausschau und konnte ihn nicht finden. Daraufhin machte er sich mit einem lauten, unanständigen und völlig uncharakteristischen Fluch Luft. Auf den er peinlicherweise eine Antwort erhielt. »Er wird inzwischen die Straße nach Jebba erreicht haben und kaum anhalten, um das zu tun.« Roilant verschluckte seinen nächsten Atemzug und hustete. Als der Anfall vorbei war, näherte er sich vorsichtig der dunklen Laube, aus der die. Stimme erklungen war. »Eliset?« fragte er ungläubig. Dann gingen in dem Haus hinter ihm plötzlich die Lichter an und ein warmer Goldschimmer strömte an ihm vorbei und vertrieb die Schatten. In ihrem Herzen saß, eingerahmt von Lampenlicht und Haaren so gelb wie Narzissen, der Traum seiner Kindheit und Jugend und lächelte. Und die eine, die er immer gewollt hatte und von der er all die Jahre durch Lügner und Betrug und Böswilligkeit, durch Narren und Gerüchte und Selbstbetrug ferngehalten wo rden war, antwortete: »Ja, mein Freund. Ich bin dir gefolgt.« Und streckte ihm die Hand entgegen. -406-